Täterinnen und Täter sorgen dafür, dass sich Kinder im Umfeld niemandem anvertrauen. Wagen sie diesen Schritt dann doch, wird ihnen oft nicht geglaubt. Und Außenstehende wollen das Ungeheuerliche einfach nicht wahrhaben. Unvorstellbar ist für viele, dass auch Mütter Mitwisserinnen oder sogar Täterinnen sein können. Leidtragende des Wegschauens sind die Kinder selbst. Es gibt aber zahlreiche Hilfsangebote.
Familienmitglieder als Täter, Täterinnen, Mittäter und Mitwisser
Kinder, die sexuelle Gewalt in der eigenen Familie erleben, erfahren oft keine Hilfe, weil die, die ihnen eigentlich helfen könnten, Teil des gewalttätigen Systems sind. Familienmitglieder sind keine schützenden Vertrauten, sondern Täter oder Täterinnen, Mittäter oder Mitwisser.
Clarissa Vogel etwa erlebte schwerste sexuelle Gewalt zwischen ihrem dritten und zwölften Lebensjahr. Ihr Stief-Opa vergewaltigte sie regelmäßig, während die Oma im Nachbarraum war. Damit gehört sie zu den rund 13 Prozent aller heute Erwachsenen in Deutschland, die laut der unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs als Kind und Jugendliche Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind.
Clarissa Vogels Mutter war Krankenschwester. Immer wenn sie zur Nachtschicht aufbrach, versprach der Vater, sich um Clarissa zu kümmern. Das tat er aber nicht. Stattdessen verbrachte er die Abende in der Kneipe und gab seine Tochter bei den Großeltern ab. Die Mutter wusste von alledem nichts. Und Clarissa selbst schwieg über das, was sie erlebt hatte.
Macht- und Abhängigkeitsstrukturen erschweren die Suche nach Hilfe
Die Polizeiliche Kriminalstatistik verzeichnet für das Jahr 2021 in Deutschland 15.507 durch die Polizei ermittelte Fälle des sexuellen Kindesmissbrauchs. In 74 Prozent der Fälle sind Mädchen die Opfer, in 26 Prozent Jungen. Doch die Dunkelziffer liegt um ein Vielfaches höher. Wie hoch, weiß niemand so genau.
Die meisten sexuellen Übergriffe in Kindheit und Jugend passieren im sozialen Nahraum: in der Kernfamilie oder der Verwandtschaft. Je näher der Täter oder die Täterin dem Opfer steht, umso schwerer ist es, sich aus diesen Macht- und Abhängigkeitsstrukturen zu lösen und Hilfe zu bekommen.
Warum erhalten Kinder als Opfer sexueller Gewalt in der Familie kaum Hilfe?
- Außenstehende haben große Hemmungen, sich in innerfamiliäre Angelegenheiten einzumischen.
- Oft herrscht in den betroffenen Familien ein kaltes, gewalttätiges Klima, sodass der Schutz des Kindes keinen hohen Stellenwert hat.
- Viele Taten werden vom Umfeld erst gar nicht erkannt, weil Täter perfide Strategien entwickeln, um ihre Opfer zum Schweigen zu bringen, sich ja nichts anmerken zu lassen.
- Diese Familien können nach außen durchaus intakt erscheinen. Die Kinder hängen augenscheinlich an ihren Tätern, rennen ihnen etwa strahlend in die Arme. Das ist aber lediglich ein Überlebensmechanismus.
Täterstrategie: Schuldumkehr und Komplizenschaft
So berichtet die Betroffene Clarissa Vogel. "Schuldumkehr" nennt sich diese Täterstrategie. Die Opfer werden zum Schweigen gebracht, indem man ihnen selbst die Schuld gibt. Kinder glauben das.
Zusätzlich machen Täterinnen und Täter Kinder zu ihren Komplizen – eine weitere Methode, um sie zum Schweigen zu bringen, sagt Trauma-Therapeutin Verena König, die – heute erwachsene – Opfer sexueller Gewalt in ihrer Praxis behandelt:
Es ist ein in sich geschlossenes System. Bestehend aus Gewalt, Bedrohung und Angst. Aus Schuldumkehr und Lügen. Aus Isolation und tiefster Einsamkeit.
Mütter – zwischen Ahnungslosigkeit und Täterschaft
"Zartbitter" ist eine Beratungsstelle gegen sexuelle Gewalt in Köln. Leiterin Ursula Enders hat sie vor über 30 Jahren gegründet. Von Anfang an gab es dort Müttergruppen. Mütter, die einfach nichts gemerkt haben. Ursula Enders sagt: Wenn Täter es "geschickt" anstellen, kann der Missbrauch tatsächlich unentdeckt bleiben.
Es gibt aber auch zahlreiche Fälle, in denen Mütter durchaus einen aktiven Part spielen: etwa als Mitwisserinnen, die untätig bleiben.
Frauen spielen unterschiedliche Rollen bei innerfamiliärer sexueller Gewalt: In jedem zehnten Fall sind sie aktive Täterinnen, fand Sabine Andresen in ihrer Studie heraus. Sabine Andresen ist Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Frankfurt. Auch diesen Kindern wird erst sehr spät oder gar nicht geholfen, weil die meisten darauf vertrauen, dass jede Mutter ihr Kind beschützt.
Die Mutter als Mitwisserin und Mittäterin. Eine Mutter, die ihr Kind nicht schützt. Viele wagen es nicht einmal, solch einen Gedanken zuzulassen. Um Kinder zu schützen, muss sich die Gesellschaft unbedingt vom Bild verabschieden, dass jede Mutter grundsätzlich eine schützende "Löwenmutter" ist.
Präventionsangebote in Kita und Schule können hilfreich sein
Wie kann man Kindern helfen, die in solch gewalttätigen, geschlossenen Systemen isoliert sind, die schweigen und sich niemandem anvertrauen? Tanja von Bodelschwingh vom Hilfetelefon sexueller Missbrauch weiß aus vielen Beratungsgesprächen und Beobachtungen: Diese Kinder haben es ganz besonders schwer. Eine Chance sieht sie in Präventionsangeboten in Schule und Kita. Hierbei hören betroffene Kinder von geschulten Fachleuten vielleicht zum ersten Mal, dass ihnen großes Unrecht angetan wird.
Klare Sprache, offene Worte für alle Körperteile. Gefühl für den eigenen Körper. Den Mut, Grenzen zu setzen, nein zu sagen. Diese Fähigkeiten können Kinder im familiären Umfeld lernen oder – sollte das nicht möglich sein – in der Schule.
Dafür aber müssen Lehrkräfte und Schulleitungen sich dem unangenehmen Thema öffnen. Laut WHO-Zahlen sitzen statistisch gesehen in jeder Klasse ein bis zwei Kinder, die sexuelle Gewalt erleben.