150 Kilometer vom Festland, im offenen Atlantik, liegt die Inselgruppe St. Kilda. Sie ist die einzige doppelte Welterbestätte Großbritanniens - sie steht auf der UNESCO-Liste sowohl wegen ihrer Natur als auch wegen ihrer kulturellen Bedeutung. In den jähen Abgründen ihrer Klippen fingen bereits jungsteinzeitliche Jäger Eissturmvögel und Basstölpel. In sechs Jahrtausenden entwickelte sich auf St. Kilda, weitgehend isoliert, eine ebenso robuste wie einzigartige Kultur, mit kaum hundert Menschen. Bis zu ihrer Evakuierung 1930 verstanden es die Insulaner, Seevögel nachhaltig zu jagen.
Die Reise nach St. Kilda
Sie beginnt grandios, wie die Hebriden-Ouvertüre von Felix Mendelssohn Bartholdy. Die ganztägige Busfahrt vom Flughafen Glasgow bis zum Ausgangshafen auf der Isle of Skye führt ins Herz der Highlands: das düstere Tal von Glencoe, flankiert von schroffen, baumlosen Gipfeln, von denen Dutzende Wasserfälle zu Tale schäumen. Hinter der lieblichen Küste des Loch Linnhe ragt Schottlands höchster Berg, Ben Nevis, in den Himmel.
Auf Skye dann ganz großes Theater: Meeresarme reflektieren den von düsteren Wolken zerrissenen Abendhimmel, der in Rot-, Orange- und Gelbtönen leuchtet. Punkt sieben Uhr am nächsten Morgen beginnt die Überfahrt, zum 140 Kilometer entfernten St. Kilda. Erst überquert man den Minch – den rauen Meeresarm zwischen den Inneren und Äußeren Hebriden.
Dann passiert man den Sound of Harris, wegen seiner Unterwasserfelsen eine der am schwierigsten navigierbaren Wasserstraßen Schottlands. Und schließlich bleibt nur noch offener Atlantik – bis Boreray, die östlichste Insel St. Kildas, in Sicht kommt. Eine kilometerlange Wolkenschleppe lässt sie wie einen feuerspeienden Vulkan wirken.
Die Seevögel
Auf dem 170 Meter hohen Stac Lee, der zweitgrößten Felsnadel Großbritanniens, fingen die Insulaner einst Basstölpel. Fotos von diesem, von Guano verfärbten Monolith, sehen aus, als wären sie verstaubt. Doch die „Staubkörnchen“ sind tatsächlich zahllose Basstölpel, die um den Felsen kreisen. St. Kilda ist das größte Seevogel-Habitat im Nordost-Atlantik, mit einer Million brütender Tiere: Papageientaucher, Eissturmvögel, Trottellummen, Tordalken, Raubmöwen, Wellenläufer und ein Dutzend anderer Arten.
Bei der Ankunft auf der Hauptinsel Hirta sind zunächst weniger Vögel zu sehen, als auf einer norddeutschen Ferieninsel, wo schon über den Fähren Dutzende Möwen kreisen, mit ihrem Fernweh weckenden Ruf. Auf St. Kilda muss man zu den Vögeln wandern. Sie brüten in Klippen, die zu den höchsten Europas zählen. Bei böigem, starkem Wind rutsche ich auf dem Hosenboden an die Abbruchkante des Hauptgipfels Conachair.
Als ich dort leidlich sicher sitze, kann ich mich nicht satt sehen an den kühnen Flugmanövern der Eissturmvögel z.B., die aus Neugier und schierer Lust am Fliegen um mich herum wirbeln. Traurig zu wissen, dass ihre Bestände wegen des Klimawandels dramatisch zurückgehen. Bedingt durch den Klimawandel gibt es immer weniger Vögel. "Die Inseln könnten sich bis zur Unkenntlichkeit verändern", warnt der National Trust for Scotland.
Die Menschen
St. Kilda war, bis zur Evakuierung der letzten Bewohner 1930, eine der am meisten fotografierten Inselgruppen der Welt. Schwarz-Weiß- Fotos zeigen Gesichter, die die längste Zeit des Lebens unter freiem Himmel, in Wind und Wetter verbringen. Bloße Füße, bei fast jeder Wetterlage. Die Frauen in hochgeschlossenen, von ihren Männern genähten Arbeitskleidern, die Haare in der Mitte gescheitelt und zurückgebunden. Die Männer in zerschlissenen Schafwollhosen und –Kitteln, auf ihren bärtigen Köpfen tam o’shanters – flache Bommel-Mützen.
Sechs Jahrtausende haben Menschen auf Schottlands entlegenstem Archipel überdauert – und vor allem von Seevögeln gelebt. Männer wurden in den Abgründen der Klippen kletternd fotografiert, wo sie in den Sommermonaten Zehntausende von Vögeln fingen. Fleisch und Eier dienten ihnen als Nahrung. Mit dem Öl der Tiere füllten sie ihre Lampen, mit Tonnen von Seevogel-Federn zahlten sie ihren Zehnten an die Feudalherren auf Skye. Mit den Gerippen der Tiere düngten sie ihre Äcker – und ruinierten sie so, ohne es zu ahnen. Seevogelknochen enthalten Schwermetalle und übersäuern den Boden. Das war einer der Gründe, weshalb die letzten drei Dutzend Insulaner 1930 aufgaben.
Die Landschaft
Es ist die dramatischste Küstenszenerie Großbritanniens. Die fünf schroffen Inseln des Archipels und seine gewaltigen Sea Stacks sind die Trümmer eines Supervulkans, der bei der Bildung des Atlantischen Ozeans vor rund 65 Millionen Jahren explodierte. Schon vor der Ankunft der ersten Menschen in der Jungsteinzeit waren die Inseln wohl vollständig baum- und strauchlos. Wegen seiner enormen ökologischen Bedeutung als größtes europäisches Seevogelhabitat wurde Saint Kilda zur UNESCO-Welterbe-Stätte gekürt.
Die Kulturlandschaft der Insel ist weltweit einzigartig. Im Laufe vieler Jahrhunderte mauerten die Insulaner etwa 1.500 Vorratshäuschen – cleitan auf Gälisch – aus unbehauenem Naturstein und bepflanzten die Dächer mit Gras. Sie dienten ihnen zum Lagern getrockneter Seevögel und ihrer Eier, zum Trocknen von Torf und Grassoden, den einzigen Brennstoffen, und um Vorräte, Werkzeuge und Ackergerät vor rauem Seewetter zu schützen. Und so ist das entlegene Saint Kilda, neben seiner überwältigenden Natur, auch die weltweit am besten erhaltene Kulturlandschaft ihrer Art.
Die Frage nach dem Glück
Sie seien "Wilde" sagte man den Insulanern im 19. Jahrhundert nach, fern der Zivilisation und aus der Zeit gefallen. Sie hausten im Dreck wie Tiere und seien erschreckend ahnungslos, was die Welt jenseits ihres Horizontes angehe. Tatsächlich waren Schulbildung und Hygiene auf Saint Kilda aus heutiger Sicht katastrophal. In den Wintermonaten erreichte die Insulaner weder Post, noch ein Arzt, der Kranke hätte versorgen, oder ein Priester, der Paare hätte trauen, Kinder taufen und Tote bestatten können.
Doch hätten die Insulaner mehr Bildung, Komfort oder Kontakt zum Festland gebraucht, um glücklich zu sein? Nein, antworten Kenner des Archipels. Ihr Leben war hart und entbehrungsreich. Aber kein Bewohner St. Kildas soll je in einem Krieg gekämpft haben. Ihre kleine Gemeinschaft kannte kein Verbrechen, keine Armut und keinen unverschämten Reichtum, und – bis zur Ankunft der ersten Priester – auch keine Hierarchie. Alle waren aufeinander angewiesen, jeder hatte seinen Platz. Und sie hatten uns eine entscheidende Zutat zum Glück voraus: Sie waren unter Ihresgleichen geborgen. Vereinzelung, Einsamkeit und Desorientierung waren ihnen ebenso unbekannt wie Äpfel und anderes Obst.