Armut und Komasaufen sind in Südafrika ein Problem
Weltweit werden ein bis zwei Prozent aller Kinder mit Alkoholschäden geboren. Südafrika hat – so wird geschätzt – die höchste Rate weltweit: bis zu zwölf Prozent. Und 40 Prozent der Betroffenen leiden an besonders ausgeprägten Schäden, dem fetalen Alkoholsyndrom (FAS). Sie sind ihr Leben lang schwerbehindert.
In Südafrika konsumieren nicht mehr Menschen Alkohol als in Deutschland. Aber: 40 Prozent von denen, die überhaupt trinken, sind Wochenende für Wochenende stark betrunken. Diese meist bitterarmen Komasäufer geben einen Großteil ihres Einkommens für Alkohol aus – im Durchschnitt 16 Prozent. Das hat mehrere Ursachen.
Weiße Kap-Winzer förderten die Alkoholabhängigkeit in Südafrika
Eine der Ursachen ist das sogenannte Dop- oder Tot-System: Jahrhundertelang bezahlten weiße Kap-Winzer ihre Arbeiter und Arbeiterinnen auch mit Wein. So förderten sie die Alkoholabhängigkeit in Südafrika.
Eine weitere Ursache exzessiven Alkoholkonsums in Südafrika ist fehlender Halt in der Familie. Die Apartheid machte aus Millionen Männern Wanderarbeiter – oft ohne familiäre Bindung. Die meisten Haushalte mit Kindern werden von Frauen geführt. Und mittlerweile trinken in Südafrika Frauen kaum weniger als Männer. Die Alkoholindustrie kümmert sich nach Kräften um die noch ausbaufähige Klientel.
Alkohol-Konzerne erobern Afrika
Fetales Alkoholsyndrom (FAS): verheerend für Nervenzellen des Embryos
Der Kinderarzt und Humangenetiker Prof. Denis Viljoen erklärt, dass alkoholbedingte Fruchtschäden erst seit den 1970er-Jahren wissenschaftlich erforscht würden. Die Relevanz des Problems in Südafrika sei ihm in den frühen 1990er-Jahren bewusst geworden. Damals habe jedes zehnte Kind, das er im Krankenhaus behandelte, Symptome von Alkoholschäden gezeigt.
Fetale Alkoholschäden seien keine Erbkrankheit, erklärt Denis Viljoen. Es gebe im Blut auch keine biologischen Marker. Die Diagnose erfolge mittels einer medizinischen Untersuchung und psychologischer Tests. Hinzu komme ein Gespräch mit der Mutter, die allerdings nicht immer die Wahrheit sage über ihren Alkoholkonsum. Viele Fälle würden deshalb nicht erkannt. Am verheerendsten wirke sich Alkoholkonsum in der Frühphase der Schwangerschaft aus, betont Viljoen – vor allem auf die Nervenzellen des Embryos.
1996 gründete Denis Viljoen die Stiftung für alkoholbezogene Forschung, FARR, die heute Leana Olivier leitet. FARR ist in Südafrika die größte der wenigen Organisationen, die sich mit fetalen Alkoholstörungen beschäftigen. Mit Störungen, die oft schon vor der Geburt zum Tod führen.
Im Grunde ignoriere Südafrikas Politik die millionenfache Verstümmelung von Kindern im Mutterleib, sagt die Psychologin und FARR-Leiterin Leana Olivier. Besonders gefährlich, so Olivier, sei Alkoholkonsum bei Frauen, die noch gar nicht wissen, dass sie schwanger sind.
Acht von zehn Schwangerschaften in Südafrika seien ungeplant, betont die Psychologin.
Denn: Je mehr vom Nervengift Alkohol die Mutter trinkt, desto größer sind meist die Schäden: Schwer betroffene Kinder haben oft einen missgebildeten und sehr kleinen Kopf; ihre Seh- und Hör-Nerven können geschädigt sein; ebenso die Nieren, der Magen, das Herz, das Skelett. Nach der Geburt sind oft Operationen nötig.
Der südafrikanische Staat schont die Alkoholindustrie
Der Staat beschränkt sich auf Appelle zu verantwortungsbewusstem Trinken und abstrakte Konzepte, für deren Umsetzung weder Geld noch Personal vorhanden sind. Und der Staat schont die Alkoholindustrie – obwohl deren Produkte das Land weit mehr kosten, als sie an Arbeitsplätzen und Steuern einbringen. In den Medien schließlich gibt es zwar Berichte über die Gefahren des Alkohols. Die aber erreichen die meisten Betroffenen nicht.
Bleiben kleine Organisationen wie FARR. Vor 15 Jahren hat Leana Olivier ihren Job im Gesundheitsministerium an den Nagel gehängt, um mit dieser Organisation endlich etwas zu bewirken. In 40 Kommunen hat FARR Studien zu vorgeburtlichen Alkoholschäden erstellt.
Die Organisation rät Frauen, die sexuell aktiv sind und nicht verhüten, ganz auf Alkohol zu verzichten; Fachkräfte und lokale Mitarbeiterinnen betreuen betroffene Mütter und Kinder – mit Erfolg: Die Zahl vorgeburtlicher Alkoholschäden habe deutlich abgenommen.
SWR 2021