Aribert Reimann war einer der erfolgreichsten Musiktheater-Komponisten in Deutschland: Zunächst vor allem Pianist und Liedbegleiter, komponierte er dann über viele Jahrzehnte besonders beeindruckend für die Stimme. Für sein Schaffen wurde er vielfach geehrt, unter anderem mit dem Siemens Musikpreis und dem Großen Bundesverdienstkreuz mit Stern. 1936 wurde er in Berlin geboren, am 13. März 2024, starb er dort.
Meilenstein der modernen Operngeschichte
Nahezu nackt tritt der König vors Publikum – zumindest stimmlich. Denn die ersten Worte kommen ohne Orchesterstütze über die Bühne. So lässt der Komponist Aribert Reimann 1978 den Sänger Dietrich Fischer-Dieskau bei der Uraufführung seiner Oper „Lear“ in der Bayerischen Staatsoper auftreten.
Danach findet ein gigantisches Crescendo statt, ein Anwachsen aller klanglichen Mittel, die sich im Chaos eines Sturms entladen, der das Erdenrund flach schlägt. Es ist ausgerechnet die finstere Opern-Tragödie nach William Shakespeares Trauerspiel „König Lear“, die dem Komponisten Aribert Reimann Weltruhm einbringt.
Das gewaltige Werk ist bis heute ein Meilenstein geblieben und festigt Reimanns Ruf als einer der innovativsten und ausdrucksstärksten Komponisten des Musiktheaters im 20. und frühen 21. Jahrhundert. Die Oper wird weltweit nachgespielt, in großen und kleinen Häusern. Bis 2017 sollten sechs weitere Bühnenwerke folgen.
Geprägt durch Bombennächte
Das expressive, abgründig-finstere Stück täuscht über die eigentlich lyrische Disposition des Komponisten hinweg. Die Stimme ist in seinem Werk immer dominant geblieben. Liedzyklen und Werke für das Musiktheater überwiegen, Orchesterwerke nehmen eher eine Randstellung ein.
Reimann hat sensible, verinnerlichte Texte von Hölderlin, Celan oder Emily Dickinson vertont. Aber die Brutalität des Menschen als des Menschen Wolf in seiner Shakespeare-Oper hat ihn dennoch geprägt. Der 1936 in Berlin geborene Reimann erlebt die Bombennächte des Zweiten Weltkriegs als prägendes und traumatisierendes Ereignis.
In diesem Schrecken verliert er auch den geliebten älteren Bruder Dietrich, ein Trauma, dem er in seinem letzten Werk für das Musiktheater 2017 ein tönendes Denkmal setzt. Mit „L’Invisible“ vertont er das markerschütternde Sterben eines von unheimlichen, unsichtbaren Kräften zu Tode gequälten Kindes in Maurice Maeterlincks Vorlage „Der Tod des Tintagile“. Die Oper ist dem Andenken des 1944 umgekommenen Bruders gewidmet.
Zweites Standbein: Liedbegleitung
Reimann ist der Sohn eines Kirchenmusikers und beginnt mit zehn Jahren zu komponieren, den Feinschliff erhält er beim Komponisten Boris Blacher. Der komponierenden Nachkriegsavantgarde in Darmstadt ist er dagegen ferngeblieben. Das erste Geld verdient er sich aber als begnadeter Klavierbegleiter. Dieses zweite Standbein sollte er nie aufgeben.
Er ist das Ideal jedes Liedsängers: ein diskreter Begleiter, stets präzise, immer an den stimmlichen Gegebenheiten orientiert und doch ausdrucksstark. Das machte ihn zum idealen Partner für den Sänger Dietrich Fischer-Dieskau. Dessen Wunsch nach einer großen Opernpartie hat er schließlich nachgegeben: der „Lear“ ist dem Jahrhundertsänger auf den Leib geschrieben.
Legendär wurde aber auch eine glasklare Aufnahme von Schuberts Zyklus „Die Winterreise“ mit der Reimann nicht weniger verbundenen Brigitte Fassbaender.
Und für Frauenstimmen hatte der Opern-Komponist ohnehin das größte Faible. Die Strindbergopern „Ein Traumspiel“ und „Die Gespenstersonate“, das für die Schwetzinger Festspiele entstandene Ökodrama „Melusine“, die Antikriegsoper „Troades“, die radikale Lorca-Vertonung „Bernarda Albas Haus“ mit ihren Vierteltonklavieren und die antike Leidenstragödie der „Medea“: sie alle sind ganz große Frauenstücke, geschrieben für große Interpretinnen wie Julia Varady, Helga Dernesch oder Marlis Petersen.
„Dominiert von den Schrecken und Schönheiten des Nächtlichen“
Nach all diesen Großtaten für Stimmen, nach der kompositorischen Umkreisung von großer Weltliteratur wie der Kafka-Oper „Das Schloss“, gab es dann doch auch Orchestrales. Die 1993 entstandene Orchesterkomposition mit dem lapidaren Titel „Neun Stücke“ etwa: klanglich fein austarierte Miniaturen, die das Sangliche des Vokalzyklus „Eingedunkelt“ instrumental weitergeschrieben haben.
„Eingedunkelt“ – das hätte über Aribert Reimanns Gesamtwerk stehen können, dominiert von den Schrecken und Schönheiten des Nächtlichen. Am 13. März ist der letzte Großmeister der Opernform im Alter von 88 Jahren gestorben. Sein Werk wird auf den Opernbühnen weiterklingen.