Eine Ausnahmeerscheinung unter den Solisten des 20. Jahrhunderts ist der sowjetische Geiger David Oistrach. Viele der großen Violinkonzerte wurden von ihm uraufgeführt. Auch als Kammermusiker trat er in Erscheinung. Er starb vor 50 Jahren am 24. Oktober 1974.
„Sein“ Konzert: Das Violinkonzert von Tschaikowsky
Seelenvoll, warm und rund, es ist sein Ton, sein Geigenton, daran erkennt man David Oistrach sofort, vor allem, wenn er Tschaikowsky spielt. Es ist „sein“ Konzert, niemand vor und niemand nach ihm hat es so gespielt wie er.
Auch 1943 führt er es auf, im damaligen Leningrad. Seit fast zwei Jahren ist die Stadt von den Deutschen belagert, er herrscht Hunger, Not, Verzweiflung. Unterstützung kommt aus dem ganzen Land, auch von Künstlern und Musikern, auch von David Oistrach.
„Morgen fliege ich nach Leningrad“, schreibt Oistrach an seine Frau, „die Stadt wird zehn Mal täglich bebombt und von Artillerie beschossen“. Trotzdem ist der Konzertsaal brechend voll. Und eiskalt. Alle sitzen da mit ihren Mänteln. Mitten im Tschaikowsky-Konzert heulen plötzlich die Sirenen auf. Luftalarm! Aber niemand steht auf, alle hören weiter zu und Oistrach spielt das Konzert zu Ende.
Die magische Ausstrahlung von David Oistrach
„Plötzlich war die Welt schön, wenn er spielte“, sagt der Dirigent Kurt Sanderling über den Musiker David Oistrach. Woher kommt das? Woher kommt diese fast schon magische Ausstrahlung, dieses Charisma, mit der er alle Welt bezaubert, unbeabsichtigt, ungeplant, uneitel.
Die Antwort ist ganz einfach. David Oistrach ist so: warmherzig, ein Humanist, ein Philanthrop, humorvoll, offen, gütig. Es gibt über ihn kein einziges böses oder kritisches Wort, ein Mensch, der seine ganze Umgebung in ein mildes freundliches Licht taucht.
Geigenspiel wirkt unendlich leicht
Mit seinem Mozart ist David Oistrach seiner Zeit weit voraus: präzise, klar artikuliert, nichts klingt verschwommen, verschmiert oder undeutlich.
Geige spielen scheint ihm unendlich leicht zu fallen. Geradezu traumwandlerisch sicher ist seine linke Hand, faszinierend seine Bogentechnik, hochvirtuos, flexibel und vor allem immer konstant, bis in den letzten Winkel seines Strichs.
Ohne Firlefanz, in sich ruhend
Keine unnötigen Bewegungen macht er, keine Hampelei. Arme, Hände, Finger und sein Instrument befinden sich in einer vollendeten Harmonie. So ist er auch als Mensch: keine Effekte, kein Firlefanz, keine Eitelkeiten. Bei ihm steht die Musik im Vordergrund.
Hochkonzentriert, mit tiefem Ernst stellt er sich und seine Geige dem Werk zur Verfügung – in sich ruhend wie ein Fels in der Brandung.
Als Geiger, später als Dirigent und als Lehrer am Moskauer Konservatorium, wo er nicht nur einfach Geiger unterrichtet, sondern mehr als das, erzählt seine Schülerin Liane Issakadze, wie viel Freiheit er ihr ließ. Es kam ihm auf das Resultat an, nicht wie sie spielte und z.B. ihre rechte Hand hielt.
Skepsis gegenüber der Avantgarde
Das Violinkonzert von Aram Chatschaturjan, gewidmet David Oistrach und von ihm uraufgeführt, genau so wie auch die beiden Konzerte von Schostakowitsch und die Violinsonate von Sergej Prokofjew – diese damals neue Musik begeistert Oistrach, vehement setzt er sich für sie ein.
Auf die Frage eines Journalisten allerdings, was er denn von der Avantgarde hält, z.B. Stockhausen und Boulez, winkt er ab. Seine Antwort: sehr ehrlich und sehr eindeutig:
„Ich versteh diese Musik nicht. Ich glaube, kaum jemand versteht sie. Sie hat keine Logik und keine Schönheit. Vielleicht werden Stockhausen und diese Leute für uns mal so sein wie Brahms und Beethoven, aber zum Glück lebe ich dann nicht mehr.“
Liebe zur sowjetischen Heimat
Ab den 50er Jahren konzertiert David Oistrach auch im Westen, mit riesigem Erfolg. Freunde und Kollegen versuchen ihn zu überreden hier zu bleiben, aber vergeblich. Oistrach liebt seine Heimat, auch als er später ständig um den Erdball fliegt, sein Heimweh nach Moskau wird ihn nie verlassen.
Die Sowjetunion reibt sich die Hände, ihr bringt der Weltstar Oistrach Devisen, Ruhm und Ehr. Und er ist ein Paradebeispiel für sozialistische Bescheidenheit, mit seinem spärlichen Gehalt und einer bescheidenen Moskauer Dreizimmerwohnung.
David Oistrach: Ein Arbeitstier
Aber Oistrach ist nicht gesund, immer wieder hat er Herzattacken. Doch er schiebt die Gefahr einfach weg. Ein Leben ohne Arbeit, undenkbar für ihn.
Wenn man auf David Oistrachs letzte 20 Lebensjahre schaut, kann man sagen „er arbeitet“, und zwar ohne Unterlass. Wenn er nicht konzertiert, dirigiert er, unterrichtet, übt, studiert Partituren, redigiert Werke oder hört Bänder ab.
Tod in Amsterdam, kurz vor einem Konzert
Auch am 24. Oktober 1974 ist er wieder unterwegs, als Dirigent mit zwei Konzerten in Amsterdam. 66 Jahre ist er alt, stark übergewichtig und herzkrank. Auf dem Programm steht unter anderem das Doppelkonzert von Brahms mit seiner ehemaligen Schülerin Liane Issakadze.
Nachts wurde sie angerufen und erfuhr, dass es David Oistrach schlecht gehe. „Ich lief gleich rüber, und er starb in diesem Moment.“ Am nächsten Tag stieg sie in das Flugzeug, mit dem auch sein Leichnam transportiert wurde, und flog zurück in die Heimat. „Dieser Gedanke, er liegt jetzt da unten im Flugzeug und ich sitze hier mit seiner Geige. Ich werde diese Tragödie nie, nie in meinem Leben vergessen.“
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