Buch-Tipp

Wunderkinder und Großmeister am Klavier: Karrieren, Krisen und Katastrophen

Stand
Autor/in
Georg Waßmuth
Onlinefassung
Sebastian Kiefl

Im Alter von vier Jahren klettert Walter Gieseking auf den Klavierhocker und von da an läuft für ihn karrieremäßig alles ziemlich glatt. Doch nicht alle pianistischen Wunderkinder sind so auf der Erfolgsspur. Viele geraten ins Straucheln, manche finden nie mehr zur Form der frühen Tage zurück. „Wunderkinder und Großmeister am Klavier – Karrieren, Krisen und Katastrophen“ ist eine Neuveröffentlichung, die Nikolaus Frey im Staccato Verlag vorlegt.

Glenn Goulds bester Freund: Der Techniker der Klimaanlage

Glenn Gould erscheint am ersten Aufnahmetag, einem heißen Junitag, mit Mantel, Mütze, Schal und Handschuhen, ausgerüstet mit Handtüchern, Mineralwasser, einigen Flaschen mit Tabletten in unterschiedlichen Farben und mit einem eigenen Klavierhocker. 

Zunächst taucht er seine Hände 20 Minuten in heißes Wasser. Während dieser Prozedur entsteht eine lockere Stimmung und man unterhält sich angeregt über Musik und Literatur. Zu einem der wichtigsten Mitarbeiter wird bald der Techniker an der Klimaanlage, denn Glenn Gould reagiert auf geringste Temperaturveränderungen empfindlich. 

Die liebevolle Mutter Glenn Goulds

Nikolaus Frey kann nicht nur spannend erzählen und einen quasi mitnehmen in das Aufnahmestudio, in dem im Jahr 1955 die legendäre Aufnahme von Bachs Goldberg-Variationen mit Glenn Gould entstanden ist. Der Autor liefert darüber hinaus ein detailliertes Psychogramm des Künstlers – wie er vom Wunderkind zum Großmeister wurde.  

Glenn Goulds Mutter Florence war 40 Jahr alt, als er zur Welt kam. Sie hatte schon einige Fehlgeburten gehabt und war sehr darauf bedacht, das es ihm, der ihr einziges Kind bleiben sollte, an nichts fehlte.

Diese Aufmerksamkeit war tatsächlich geboten, denn sein Gesundheitszustand war recht labil und außerdem grassierte in Toronto im Sommer regelmäßig die Kinderlähmung, so dass es ratsam war, größere Menschenansammlungen zu meiden. So erlebte Glenn seine Jugend als Einzelkind, liebevoll behütet von seiner Mutter, aber auch aus Sorge von ihr überwacht. 

Knapp 20 Wunderkinder und Großmeister

Der „Übertreibungskünstler“ Glenn Gould ist nur eine von knapp zwanzig herausragenden Persönlichkeiten, deren Karriereweg Nikolaus Frey über Stock und Stein nachzeichnet.

Es sei keineswegs sicher, so der Autor, dass ein Kind, welches im Alter von sieben oder acht Jahren durch sensationell gut entwickeltes Klavierspiel auffalle, nach einem Abstand von weiteren zehn Jahren das Niveau erreiche, das sich sein Umfeld erhofft.

Vom Wunderkind zum pubertierenden Jugendlichen

Frey gewährt Einblicke in Phasen der Krise, ja sogar der künstlerischen Katastrophen. So geriet etwa der Pianist Claudio Arrau nach seinem Aufstieg als Wunderkind in erhebliche Turbulenzen. Plötzlich hatte er Angst vor Podium und Publikum und verlor seine Selbstsicherheit.

Einen pubertierenden Jugendlichen mochte zudem kaum jemand mehr engagieren, der Niedlichkeits-Faktor des Wunderkindes war verflogen. Arrau wendete sich verzweifelt an den Psychiater Hubert Abrahmsohn in Berlin. Der eröffnete ihm Möglichkeiten, mit seiner Angst umzugehen und auch den Anspruch an die eigene Unfehlbarkeit zu relativeren.  

Claudio Arrau am Steinway-Flügel
Claudio Arrau an seinem Steinway-Flügel beim Prager Frühlings-Musikfestival 1960.

Kontrolle über eigene Probleme

Arrau setzte sich nicht nur während der Gespräche mit seinem Psychiater mit seinen Problemen auseinander, die ihm als Wunderkind völlig unbekannt gewesen waren und die seit dem Tod seines Lehrers ganz unerwartet seine Existenz als Künstler verunsicherten. 

Er gewöhnte sich an, diese Probleme kontinuierlich im Blick zu behalten und einen Weg zu suchen, um sie in sein Leben zu integrieren, damit sie nicht mehr gefährlich werden konnten, indem sie das frei Strömen seiner künstlerischen Energie während eines Konzertes störten. 

Hinweise zu passenden Musikstücken

Die Auswirkungen einer Krise auf die künstlerische Entwicklung, das Reifen einer Interpretation im gelebten Leben - diesem Aspekten widmet sich Nikolaus Frey in jedem seiner Porträts. Vielfach gibt es Hinweise, wie man die passenden Musikstücke dazu im Internet finden kann und das macht die Lektüre spannend und kurzweilig.

So liest sich etwa das Kapitel über den ungarischen Pianisten György Cziffra wie ein Krimi. Weil Cziffra aus seinem stalinistisch regierten Heimatland fliehen wollte, wurde er zu drei Jahren schwerster Zwangsarbeit verurteilt. Danach musste er ein Korsett tragen und seine ruinierten Hände lange bandagieren. Doch mit seinen Interpretation, etwa von Franz Liszt, verweise dieser Überlebenskünstler noch heute die Konkurrenz auf die Plätze. 

Zeichnung von György Cziffra am Flügel
Zeichnung des ungarisch-französischen Pianisten György Cziffra am Flügel, gezeichnet von Serge Tziganov.

Kriege und Helikoptereltern

Ob Walter Gieseking, Wilhelm Kempf, Vladimir Horowitz oder Clara Haskil, Nikolaus Frey leuchtet im Dämmerlicht liegende Karrierewege aus und hat erhellendes zu berichten. Manchmal sind die Katastrophen in der Weltpolitik zu verorten. Die Pianistin Lili Kraus musste zum Beispiel während dem Zweiten Weltkrieg Jahre in einem japanischen Internierungslager verbringen.

Anderen saßen die Eltern ein halbes Leben lang wie ein Albdruck im Nacken. So wurde etwa der eher introvertierte Friedrich Gulda von seinem Vater stets mit einem zackigen „Fritz, spiel auf Sieg“ ins Rennen gescheucht.

Absolut empfehlenswert

Die absolut empfehlenswerte Neuerscheinung „Wunderkinder und Großmeister am Klavier - Karrieren, Krisen und Katastrophen“ beendet Nikolaus Frey mit einer Hommage an Alfred Brendel. 

Nach allen Irrungen und Wirkungen erhält so ein Musikpoet eine Würdigung, der selbstironisch mit einem Gedicht den ganzen Wunderkinderzirkus reflektiert. 

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