Das Magazin „The Economist“ hat Stephen Hough zu einem der zwanzig lebenden Universalgelehrten ernannt, denn er verbindet eine herausragende Karriere als Pianist mit der eines Komponisten und Schriftstellers. Houghs pianistische Qualitäten sind auf mehr als 60 Aufnahmen dokumentiert, jetzt hat er ein Buch mit Kindheits- und Jugenderinnerungen geschrieben.
Zwischen persönlicher Erinnerung und Zeitgeschichte
Die ersten Erinnerungen? Nein, es sind keine unbeholfenen Versuche am Klavier, keine Tonleitern. Die ersten Erinnerungen sind Fetzen einer abgerissenen Tapete und leere Flaschen nach einer Party-Nacht seiner Eltern. Auch erinnert sich Stephen Hough an die Mutter als eine Frau, die gern an Autos herumschraubte und an die Großeltern, die mit Musik nichts am Hut hatten, dafür umso mehr mit Zigaretten und Baumwolle:
„(Mein Großvater) arbeitete in Liverpool in der Baumwollbörse“, erinnert sich Hough in seinem Buch. „Einmal hatte ich ihn in seinem Büro besucht: ein lederbezogener Schreibtisch, die Kartei, Hemden mit steifen Kragen, Westen, Löschblätter und Füllfederhalter, ein Mahagoni-Drehstuhl, rußverschmierte Fenster … und Aschenbecher, die voller Kippen und Asche waren.“
Schon in den ersten Kapiteln dieses Buches zeigt Stephen Hough, dass es ihm nicht nur um Persönliches geht, sondern auch um Betrachtungen zur Geschichte. Geboren 1961, unweit von Liverpool, wächst Hough in einer beschaulichen, aber zugleich einengenden Welt auf.
Kratzende Vinylplatten sind der erste Bezugspunkt zur Musik
Musik? Da sind die Kirchen- und Kinderlieder seiner Kindheit und ein kleiner Plattenspieler mit kratzenden Vinylplatten als erste Bezugspunkte. Und da ist Onkel Tony, dessen Gestalt auf den Jungen Stephen etwas exotisch wirkt: „Dennoch war er der Klavierspieler in der Familie. Warum nur haben wir uns so selten gesehen, nachdem ich mit dem Klavierspielen angefangen hatte? Wollten mich meine Eltern von Onkel Tony fernhalten?“
Schließlich die erste Begegnung mit einem Klavier, Nummer 94, Chester Road in Grappenhall. Die ersten Klänge dringen in Stephen Houghs Ohren – und damit in sein Leben.
Stephen Hough erzählt sehr detailreich
Sehr direkt, sehr anschaulich, sehr detailreich erzählt Stephen Hough in seinem neuen Buch von den ersten Klavierstunden und der wichtigsten Schallplatte seiner Kindheit, „Keyboard Giants of the Past“ von RCA: „Die Platte wurde zu einem ständigen Begleiter. Das wiederholte Anhören jeden Titels prägte in diesen frühesten, einflussreichsten Jahren meinen pianistischen Geschmack.“
Bis heute warnt Hough Studierende davor, sich „allzu viele Aufnahmen anzuhören und bestimmte Interpretationen zu übernehmen“. Als Kind macht er schnell Fortschritte, nimmt an kleineren Wettbewerben teil und kommt erstmals nach London. Bei einem seiner Wettbewerbe gewinnt er zwar keinen Preis, doch der Jury-Vorsitzende heißt Gerald Moore. Der große Liedpianist lobt den erst acht Jahre alten Stephen: „Von seinem Spiel sind wir begeistert und auch überzeugt, dass er ein großes Potenzial hat.“
Durchaus romanhaft und kurzweilig
Es wäre vielleicht zu viel gesagt, in dieser Biografie romanhafte Züge erkennen zu wollen. Doch die vielen kleinen Nebenwege, die Hough beschreitet, lesen sich durchaus romanhaft und zugleich kurzweilig. Als Stephen neun Jahre alt ist, sind wir bei der Lektüre dieses Buches bereits auf Seite 85.
Es ist auch ein Buch über eine Zeit der Widerstände, etwa weil Homosexualität noch als Frevel gilt. Und so gerät Stephen als Heranwachsender zunehmend zwischen die Fronten. Die einen hofieren ihn, die anderen distanzieren sich demonstrativ. Hough studiert an der Chetham’s School of Music, schließlich am Royal Northern College, er gewinnt Preise und macht seinen Master an der Juilliard School. Dennoch habe er zweimal in seinem Leben ernsthaft erwogen, das Klavierspiel aufzugeben und Geistlicher zu werden.
Hough schweift zielsicher durch sein Leben, ohne geschwätzig zu wirken. Dieses Buch entspricht weniger der klassischen Autobiografie eines Künstlers, der sich allein für die Musik interessiert, oder gar der eines Wunderkindes, das stramm seinen Weg geht. Stephen Houghs Weg ist ungleich verschlungener, denn er liest, schreibt, malt, führt ästhetische oder theologische Diskussionen, wägt pädagogische Fragen hin und her – und komponiert übrigens auch.
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