Musikstück der Woche

Christina Landshamer singt Lili Boulangers „Pie Jesu“

Stand
Autor/in
Jörg Lengersdorf
Onlinefassung
Dominic Konrad

Für ihr größtes Ziel muss sie mehrere Anläufe nehmen, auch wegen gesundheitlicher Rückschläge. Beim wichtigsten Wettbewerb der europäischen Kompositionszunft wird Lili Boulanger 1912 wegen Fieberschüben vor dem Finale aufgeben. Sie ist 18 und hat noch knapp 6 Jahre zu leben.

Eine hochbegabte Familie

Marie-Juliette Olga Boulanger wird am 18. August 1893 in Paris geboren. Ihr Rufname wird „Lili“. Lilis Vater Ernest ist Dirigent, Komponist, Sänger und Professor am Konservatorium. Ihre Mutter Raïssa ist ebenfalls Sängerin und auch ihre 6 Jahre ältere Schwester Nadia hat sich ganz der Musik verschrieben.

Weil Lili sich von einer Lungenentzündung in ihrer Kindheit nie wieder ganz erholt, wird ihr regelmäßiger Schulbesuch unmöglich. Sie stellt sich selbst einen autodidaktischen Lehrplan zusammen.

Durchbruch als Teenager, frauenfeindliche Schmähungen der Presse

1913 wird Lili Boulanger mit 19 Jahren die erste Frau, die den wohl renommiertesten aller Kompositionspreise gewinnt, den Prix de Rome. Der selbstgewisse, männlich geprägte Musikjournalismus erleidet eine empfindliche Schlappe.

Ein Kritiker schreibt sinngemäß, man gehe als Mann von nun an besser gar nicht mehr zu Wettbewerben, denn teilnehmende Frauen machten jede Konkurrenz zur unmännlichen Farce. Die Presse fragt misogyn, ob „echte Männer“ wirklich mit „Porzellanpüppchen“ kämpfen sollten, und gibt gleich die rhetorische Antwort: Wettkampf mit Frauen sei lächerlich.

Ein anderer Schreiber bemerkt allerdings schon damals das Offensichtliche: Er erklärt hellsichtig, dass die Frauenfeindlichkeit der Jury so offen zu Tage trete, dass letztlich das Werk der jungen Boulanger plausiblerweise nur genial sein könne, haushoch überlegen, denn sonst hätte man ihren verdienten Sieg jedenfalls verhindert.

Boulangers „Pie Jesu“ wird ihr eigenes Requiem

Mit dem Preis kommt der Ruhm für Lili Boulanger. Dann beginnt der Erste Weltkrieg, sie wird den Frieden nicht mehr erleben. Sie hat sich schon mit Anfang 20 mit Masern angesteckt, die Spätfolgen der Lungenentzündung zeitigen weitere Zusammenbrüche eines ohnehin geschwächten Systems, sie stirbt mit Mitte 20, im März 1918.

Noch auf dem Totenbett schreibt sie das weltentrückte, schwebend zerbrechliche „Pie Jesu“ für Gesang, Streichquartett, Orgel und Harfe. Es wird ihr eigenes Requiem.

Christina Landshamer und Olivier Latry mit dem SWR-Radio-Sinfonieorchester Stuttgart

Christina Landshamer ist Professorin für Gesang an der Musikhochschule Trossingen. Mit ihrer Vielseitigkeit in unterschiedlichstem Repertoire ist sie eine weltweit gefragte Konzert-, Opern- und Liedsängerin.

Olivier Latry gehört zu den stilprägendsten Organisten der Welt. Er wurde 1985, damals 23 Jahre alt, zum Titularorganisten von Notre-Dame in Paris ernannt und ist Organist Emeritus des Orchestre National de Montréal.

Das SWR Symphonieorchester hat sein künstlerisches Zuhause in der Liederhalle Stuttgart und im Konzerthaus Freiburg. Im September 2016 aus der Zusammenführung des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart des SWR und des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg hervorgegangen, zählen Interpretationsansätze aus der historisch informierten Aufführungspraxis, das klassisch-romantische Kernrepertoire sowie Musik der Gegenwart gleichermaßen zu seinem künstlerischen Profil.

2013 entstand die Aufnahme von Lili Boulangers „Pie Jesu“ unter dem damaligen Chefdirigenten Stéphane Denève in der Stiftskirche Stuttgart.

Lili Boulanger und ihre Schwester Nadia

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Jörg Lengersdorf
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