Kompositionen einer Zwanzigjährigen
Diese CD ist den Kompositionen einer Zwanzigjährigen gewidmet. Lilli Boulanger heißt sie. Sie war die jüngere Schwester von Nadja Boulanger, der großen alten Dame der französischen Moderne, die als Pianistin, Komponistin und Dirigentin Berühmtheit erlangte. Als Hochschulprofessorin zählte sie zum Beispiel Aaron Copland, Astor Piazzolla, Quincy Jones, Roy Harris und Philip Glass zu ihren Schülern. Trotz dieses Ruhmes war Nadja Boulanger Zeit Ihres Lebens überzeugt, dass ihre Schwester Lilli die Begabtere von ihnen beiden war und in der Musikgeschichte nachdrücklich ihre Spuren hinterlassen hätte, wenn, ja, wenn sie nicht so jung gestorben wäre. Seit früher Kindheit war sie krank und wurde nicht älter als 25 Jahre. Dennoch hat sie ein erstaunliches Oeuvre hinterlassen, das für seine Zeit, wir sprechen von den Jahren zwischen 1910 und 1916, ausgesprochen eigenständig und avanciert war.
Prix de Rome
Lili Boulanger war eine frühreife Hochbegabung, die Violine, Violoncello, Harfe und Klavier lernte und mit 17 den Entschluss fasste, Komponistin zu werden. Kurz darauf errang sie als junge Kompositionsstudentin am Pariser Konservatorium die höchste Auszeichnung des französischen Musiklebens, den Prix de Rome – als erste Frau, wohlgemerkt. Diese CD hier ist natürlich nicht die erste Veröffentlichung der Kompositionen von Lili Boulanger, aber sie ist, soweit ich sehe, diejenige, die sich am konsequentesten ihren Chorwerken widmet, die einen gewichtigen Teil ihres Oeuvres ausmachen. Die drei solistischen Klavierwerke sind auf dieser CD nur eingeschoben, der Abwechslung halber, vermute ich.
Bei der Aufnahme "La source" von Lili Boulanger sind es vor allem die Frauenstimmen mit ihrer perfekten Intonation, die das Faszinosum erzeugen. Dass sich das hohe Fis als Hochton und irisierendes Flirren wie ein Orgelpunkt durch das ganze Stück hindurchzieht, immer weitergegeben zwischen Klavier und Frauenstimmen, bis das Gedächtnis des Zuhörers den Ton festhält und als Zentral erkennt: Glitzerndes Wasser inmitten idyllischer Waldesruhe, Ziegen, Bienen, Tauben flötende Hirten, Hirsche sowie zahllose farbenreiche Blumen und Blüten bevölkern die Szenerie des Gedichtes– Die Texte, die die junge Musikerin ausgewählt hat, sind keine große Lyrik, die Musik aber ist bemerkenswert.
Insgesamt erreichen die Männerstimmen auf dieser Einspielung nicht die Homogenität und Intonationssicherheit der Frauenstimmen – aber es ist ein sehr hohes Niveau, das Michel Alber mit seinem aus freien Musikern zusammengestellten Projektchor auf der Landesakademie Ochsenhausen hier vorlegt. Vor allem der weite, ruhig strömende Atem der Sänger und der warme, körperhafte Ton der Frauenstimmen hat es mir angetan, mit der weichen Eleganz eines Tuschpinsels schwingen die weiten Bögen.
Phantasie und Klangsinnlichkeit
79 Minuten Lilli Boulanger, kurze Werke für Soli, Chor und Klavier, die sich zumeist an Naturpoesie inspirieren, eine farbenreiche Musik von großer Vielfalt, Phantasie und Klangsinnlichkeit. Zu gerne möchte man wissen, wie die bereits 25 jährig verstorbene Hochbegabung zwanzig Jahre später komponiert hätte. In diesem Jahr jährt sich ihr früher Tod zum 100. Mal. Der Carus Verlag hat aus diesem Anlass eine CD mit den aparten und für ihre Zeit sehr avancierten Chorwerken herausgegeben. Ein hochwillkommenes Repertoire, wenn man bedenkt, wie wenige Komponisten in dieser Zeit überhaupt für Chor komponiert haben. Michael Alber und sein Orpheus Vokalensemble haben diese CD eingespielt, zusammen mit dem Busoni-und Arthur Rubinsteinpreisträger Antonii Baryshevskyi am Klavier. „Hymne au soleil“ ist der Titel der CD.
CD-Tipp vom 1.6.2018 aus der Sendung Treffpunkt Klassik - Neue CDs