Musikmarkt: Hörbuch-Tipp

Leidensgeschichten mit Schuberts „Die schöne Müllerin“ von Stefan Weiller

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Autor/in
Dorothea Husslein

Der freischaffende Künstler und Journalist Stefan Weiller beschäftigt sich immer wieder mit Menschen in extremen Lebenssituationen und ihren Grenzerfahrungen. Und so sucht er in seinen Arbeiten neue Ausdrucksformen für soziale und gesellschaftspolitische Themen. Zwei dieser Kunstprojekte sind bisher als Hörbücher entstanden: „Deutsche Winterreise“ und „Letzte Lieder“. Darin geht es um Obdachlosigkeit und um Gespräche mit Sterbenden über die Musik ihres Lebens. Für sein jüngstes Projekt hat er Franz Schuberts Liederzyklus "Die schöne Müllerin" als Grundlage genommen, um von Obdachlosen, Suchtkranken, Gewaltopfern und Stalkern zu erzählen.

Hörbuch mit Triggerwarnung

„Diese CD könnte Menschen, die sich mit Suizidgedanken befassen und Sorgen haben, emotional belasten. Bleiben Sie mit Sorgen nicht allein. Bei Suizidgedanken gibt es eine Vielzahl von Hilfsangeboten. Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar.“

Selten stoßt man auf einen Hinweis wie diesen in einem CD-Booklet. Er steht am Ende des Einführungstextes. Doch wer sich Stefan Weillers Hörbuch „Die schöne Müllerin“ vornimmt, sollte wissen, dass er sich auf Erzählungen wie die folgende einlässt:

Seine Geschichte beginnt in Österreich; dort war er mal verliebt. Doch schließlich war es aus mit der Liebe, obwohl ihr Vorwurf mit dem Gefängnis eigentlich schon lange überholt war. Also organisierte er frische Kleidung, wusch und rasierte sich penibel, um noch den leisesten Geruch der Straße wegzuwischen. Er bestieg einen Zug, suchte einen Platz ohne Reservierung, spürte sein Herz am Hals pochen bei der Frage: ,Jemand zugestiegen?' Er konnte aber aufrichtig in sich hinein antworten: ,Nein, zugestiegen nichtdenn ich steige eigentlich gerade aus.'“

Leidensgeschichten vertont durch Schuberts "Schöner Müllerin"

Die große Liebe stirbt, und mit ihr geht der Halt, emotional und materiell. Der Schritt in die Selbständigkeit missglückt, die Schulden häufen sich und die Beziehung zerbricht, eine Existenz zerfällt vor unseren Augen. Aus solchen Biographien hat der Autor Stefan Weiller Parallelen zu Franz Schuberts „Schöner Müllerin“ gezogen.

Schuberts Liederzyklus entstand 1823 und basiert auf Gedichten Wilhelm Müllers. In 20 Liedern wird darin die im Suizid endende, unglückliche, weil einseitige Liebesgeschichte eines jungen Müllerburschen zur Müllerin geschildert. Auch in Weillers vierzehn Episoden geht es wie bei Müller und Schubert um gescheiterte Liebe, ihre Folgen und um Selbstmord.

Obdachlosigkeit, Suchtkranke, Gewalt- und Stalkingopfer

Da war diese Nacht unweit eines großen Supermarkts. Dort, wo die Außenkamera hängt, bereitete ich mir ein Lager. Unter der Kamera fühlte ich mich sicher und behütet, wie bei einer Mutter. Ich lag da also auf meiner Isomatte, aß ein Wurstbrot und dachte über das Leben nach.“

Stefan Weiller hat über mehrere Jahre in sozialen Einrichtungen deutscher Großstädte wie Beratungsstellen für sozial Benachteiligte, Unterkünften und Frauenhäusern mit Betroffenen gesprochen. Suchtkranke, Wohnungslose, Obdachlose und zur Prostitution gezwungene Frauen erzählten ihre Geschichten von Tod, Einsamkeit, Armut und Krankheit.

Diese Menschen haben psychische, körperliche und sexuelle Gewalt, Stalking, soziale, sexuelle und rassistische Ausgrenzung oder Angst vor Krieg erlebt. Sie berichten von Versagensängsten und Fluchterfahrungen in unsteten Zeiten.

Thema Suizid

Seine Familie sagte: ,Vielleicht kommst du uns holen. Vielleicht kommst du zurück.' Am letzten Abend gab ihm seine Mutter ein kleines Buch mit Gedichten. Sie hatte ein Lorbeerblatt hineingelegt; es sollte nach Heimat riechen. Einige Zeit später saß er in einem Boot, dann hockte er hinter Kartons in einem Lieferwagen, der selten hielt und lange nicht geöffnet wurde. Seine Eltern verfolgten seine Reise über die Geodaten, die sein Handy aussandte. Diese Vorstellung gab ihm das Gefühl, nicht alleine zu sein. Doch irgendwann war er ganz gewiss: Jetzt kommt der Tod.“

Geschickt hat Stefan Weiller Schuberts Liederzyklus „Die schöne Müllerin“ mit den Geschichten von Menschen, deren Lebensweg in Einsamkeit und Isolation geführt hat, mit der Lyrik Wilhelm Müllers zu einer sehr eigenen und ambitionierten Collage verwoben.

Einfühlsames Vorlesen der Texte ohne Kitsch

Gerade die Nähe zu unserer Zeit mit ihren sozialen Problemen macht die Geschichten besonders anrührend. Dass man ihnen mit einer Mischung aus zurückhaltender Neugierde und Spannung folgt, liegt vor allem an der Besetzung mit Birgitta Assheuer, Dagmar Manzel und Jens Harzer. Alle drei lesen diese Texte einfühlsam, zugleich eindringlich und dramatisch, aber ohne jedes Klischee.

All das unterstreicht Pianist Hedayet Djeddikar mit seiner musikalischen Neuinterpretation. Kreativ verfremdet er in manchen Teilen Schuberts Musik und kommentiert so die Inhalte. Die Neuinterpretation der „Schönen Müllerin“ geht unter Haut, doch ich empfehle, sie nicht in trüber Stimmung und nur wohldosiert zu hören.

Kostenpunkt: 18,00€

Erschienen ist sein gleichnamiges Hörbuch „Die schöne Müllerin“ im Berliner Verlag speak low zum Preis von 18,00 €. Die Lebensbeichten der anonym Bleibenden, an den Rand der Gesellschaft gedrängten Personen sind weder schön noch angenehm. Stefan Weiller nutzt diesen 200 Jahre alten Zyklus geschickt um zu zeigen, dass menschliche Tristesse und Einsamkeit ein andauerndes Problem sind.

Gespräch Die Stimme der Straße – Christina Bacher ist Chefredakteurin von Deutschlands ältester Straßenzeitung

Chri­s­tina Bacher ist Chefredakteurin von Deutsch­lands ältester Straßenzeitung. Der „Draussenseiter“ in Köln wurde vor 30 Jahren von Obdachlosen zum ersten Mal herausgegeben.

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Dorothea Husslein