Zu Modest Mussorgskys „Bildern einer Ausstellung“ scheint alles gesagt zu sein. Oder doch nicht? Die ukrainische Pianistin Anna Fedorova, die mit Rachmaninow-Interpretationen auf YouTube Erfolge feiert, hat eine Neuaufnahme vorgelegt, die sich markant von anderen unterscheidet.
Anna Fedorova beschwört die Geister der Vergangenheit
Mit den ersten Takten aus den „Bildern einer Ausstellung“ scheint Anna Fedorova in ein großes Gebäude hineinzurufen. Aus weiter Ferne hallt das Echo zurück.
Fedorova kehrt die Verhältnisse um: Bei ihr antwortet nicht, wie sonst, ein kraftvoller Chor auf den Vorsänger – sie hebt stattdessen die Stimme des Einzelnen heraus. Und lässt die Geister der Vergangenheit lebendig werden.
Dabei betont sie die Eigenarten der russischen Volksmusik mit ihren immergleichen Motiven und Tonfolgen. Aber sie verliert sich nicht in simpler Folklore, sondern bindet alles in einen mitreißenden Steigerungszug ein. Diese „Promenade“, die Mussorgskys imaginären Museumsbesuch eröffnet, verheißt einen Aufbruch und keinen Spaziergang.
Altbekanntes klingt bei Fedorova neu, improvisiert und radikal
Fedorova hat die Gabe, mit Vertrautem zu überraschen. Das Spielen und Streiten der Kinder in den Tuilerien erinnert bei dieser Pianistin fast an eine Improvisation. Sie setzt kleine Verzögerungen, als würde sie nach etwas suchen, dann hält sie inne und hat etwas Neues entdeckt.
All das wirkt so spontan, als wäre diese Musik gerade erst erfunden worden. Man hört Details, Akzente und Gegenstimmen, die bei einem klassischen Vortrag meist unbemerkt bleiben. Vor allem das Nette und Neckische klingt bei Fedorova ziemlich widerborstig.
Das Ballett der unausgeschlüpften Küken in ihren Eierschalen gestaltet Anna Fedorova nicht pittoresk und gefällig, sondern wie musikalische Avantgarde: mit spitzen, klirrenden Dissonanzen und freier Metrik – ganz und gar unberechenbar.
Diese Interpretation zeigt eine Nähe zum Experiment und zur Skizze. Sie ist radikal, aber gerade deshalb so plausibel, weil Mussorgskys Musik selbst diese Radikalität in sich trägt. Man könnte meinen, er hätte gerade mal ein ganzes Jahrhundert übersprungen.
Abschied vom Schönheitsempfinden der Romantik
Das gilt auch für das Portrait der furchterregenden Hexe Baba-Jaga. Schroff schlägt Fedorova die polternden Rhythmen in die Klaviatur.
Der Klang verhärtet sich zum Geräuschhaften. Das ist nicht nur abenteuerlich virtuos, sondern offenbart eine weitere Grenzverschiebung: Mit dem Schönheitsempfinden der Romantik hat es nichts mehr zu tun.
Fedorova fordert dem Klavier neue, rohe Klänge ab und zeigt ein weiteres Mal, wie sehr Mussorgskys Musik in die Moderne vorgreift: ein Vorbote von Igor Strawinsky oder Galina Ustwolskaja.
Die Musik löst sich in einen diffusen Klangschleier auf, bis wir nicht mehr wissen, wo wir sind und wohin die Reise geht. Eine musikalische Hexerei, passend zur Baba-Jaga.
Anna Fedorova erweckt den extremen Mussorgsky
Im letzten Bild, dem „Großen Tor von Kiew“, lässt Fedorova die Glocken klangmächtig dröhnen.
Wir können nur staunen, wie sehr Mussorgsky das Klavierspiel seiner Zeit revolutionierte. Anna Fedorova erweckt die Extreme seiner Musik zum Leben und befreit sich von der Bürde so vieler Interpretationen und Bearbeitungen.