Berlin ist die Orchesterhauptstadt der Welt. Die Berliner Philharmoniker sind dabei nur das berühmteste dieser Orchester – das älteste ist jedoch die Staatskapelle, das Orchester der Staatsoper Unter den Linden, das seit 1992 von Daniel Barenboim geleitet wird. Das Ensemble wurde vor rund 450 Jahren als Hofkapelle eines Kurfürsten gegründet. Nun ist ein Buch über die wechselvolle Geschichte der früheren preußischen Hof- und jetzigen Staatskapelle erschienen. Matthias Nöther hat es gelesen.
Als Daniel Barenboim 1992 die Leitung der Staatsoper Unter den Linden übernahm, machte er keinen Hehl daraus, dass sein Interesse vor allem der Staatskapelle Berlin und ihrem Klang galt.
Nicht nur für Barenboim, sondern für die gesamte Welt westlich des Eisernen Vorhangs tauchte dieses Orchester in den frühen Neunziger Jahren wie ein Schatz aus einem längst gesunkenen Schiff auf. Es hatte vor 1933 mit den berühmtesten Dirigenten der Welt gearbeitet: zum Beispiel mit Bruno Walter, Erich Kleiber, Richard Strauss und Wilhelm Furtwängler. In der DDR dann hatte die Staatskapelle, über Jahrzehnte keinen Austausch mit der internationalen Orchesterszene gehabt. Seine Traditionen der Vorkriegszeit hatte das Orchester aber an seine jungen Mitglieder weitergegeben, zum Beispiel einen ungewöhnlich dunklen Streicherklang.
Mit der Staatskapelle war der älteste noch lebendige Teil von Berlins Musikgeschichte nun wieder für die ganze Welt erlebbar. Denn das Orchester war die Nachfolgeinstitution der einstigen Hofkapelle der preußischen Könige und Kaiser. Nach 350 Jahren war sie 1918 kurzerhand umbenannt worden.
Als Herausgeber des Bandes zu vierhundertfünfzig Jahren Staatskapelle Berlin zeichnet Detlef Giese verantwortlich, langjähriger Dramaturg an der Staatsoper Unter den Linden. Das Buch ist im Hanser-Verlag erschienen und kostet achtunddreißig Euro. Giese versteht sich als nüchterner Chronist – erzählerischer Schwung fehlt deshalb öfters mal.
Dass man das Buch trotzdem mit Interesse liest, liegt einfach daran, dass diese Hofkapelle über die Jahrhunderte immer wieder an bedeutenden musikhistorischen Konstellationen beteiligt war – wenn auch ihre mutmaßlichen Anfänge unter Kurfürst Joachim dem Zweiten im Dunkeln liegen. Nachweisbar sind für dessen Epoche im sechzehnten Jahrhundert Ritterspiele, Aufzüge, Ringrennen und Feste der kurfürstlichen Familie vor dem Berliner Stadtschloss – aber keine Musik. Ohne diese, so die Autoren des Bandes, seien aber solche Feierlichkeiten nicht vorstellbar.
Mit der frühen preußischen Hofkapelle ging es mal steil bergauf, mal steil bergab. Interessante künstlerische Aufgaben und mehr Geld gab es immer unter jenen Fürsten, die von den Historikern eher als verschwendungssüchtig deklariert wurden. Unter den eher kriegführenden Herrschern dann war es genau umgekehrt.
Der für die Geschichte der Hofkapelle wichtigste Fürst war zweifellos Friedrich der Zweite. Er gründete nach Jahrzehnte langer Vernachlässigung nicht nur die Hofkapelle neu und warb berühmte Musiker wie Carl Philipp Emanuel Bach, Johann Joachim Quantz und viele Andere an – Friedrich ließ auch die Königliche Hofoper Unter den Linden erbauen und schuf damit die künftige Hauptwirkungsstätte des Orchesters.
Die drei Autoren des Jubiläumsbandes schildern auch die changierende Stellung der Hofkapelle zwischen Adel und Bürgertum im neunzehnten Jahrhundert. Die Hof- und später die Staatskapelle wirkte bei entscheidenden musikgeschichtlichen Ereignissen als unauffällige Hauptprotagonistin.
Es gibt kaum Musikliebhaber, die nicht schon mal irgendwie von der legendären Wiederaufführung der Bachschen Matthäus-Passion in Berlin im Jahr 1829 gehört haben. Der Chor war bekanntlich die Berliner Singakademie – das Orchester bleibt meistens unerwähnt. Und handelt es sich – über hundert Jahre später – bei der Fotografie des jungen jüdischen Geigers Yehudi Menuhin an der Seite des Dirigenten Wilhelm Furtwängler nicht um eines der berühmtesten Bilder der Zeitgeschichte? Das damals im Oktober 1947 zugunsten der Jüdischen Gemeinde Berlins ein Wohltätigkeitskonzert spielende Orchester war übrigens die Staatskapelle Berlin. Solche und andere historische Ereignisse macht das Buch zu vierhundertfünfzig Jahren Staatskapelle überhaupt erst bewusst.