Im Mai 2021 ist sie gestorben, die Grande Dame der estnischen Kunstmusik: Ester Mägi wurde 99 Jahre alt. Jetzt hat ein Ensemble um Mezzosopranistin Maarja Purga ihr komplettes Werk für Frauenstimme eingespielt.
Singen als Widerstandsakt
Das Singen hat in den baltischen Staaten eine besondere Bedeutung. Die dort lebenden Menschen haben zwar lange Zeit zwanglos alleine oder gemeinsam gesungen wie überall anders auch – in den Jahren der sowjetischen Besatzung allerdings wurde das Singen zum Widerstandsakt.
Die Besatzungsmacht hatte Lieder und Gesänge verboten, in denen auf irgendeine Weise zu einem anderen Land als der Sowjetunion Patriotismus zum Ausdruck gebracht wurde. Dabei war egal, was der Text tatsächlich erzählte – nationales Liedgut an sich galt als schädlich und falsch.
Estnische Volkspoesie
Die Komponistin Ester Mägi, geboren 1922, ist in genau dieser Zeit aufgewachsen – die Erfahrung der Besatzung, russische wie deutsche, hat sich tief in ihre Erinnerung eingeschrieben.
In einem Zyklus wie „Põllol laulmine“ aus den Jahren 1988 und 2005 vertont die Grande Dame der estnischen klassischen Musik ganz bewusst vor diesem Hintergrund estnische Volkspoesie.
„Ende, kleines Feld, ende kleine Insel, lass das Feld durch Schneiden enden […] der Heuhaufen ist längst geschnitten“, singt hier die Mezzosopranistin Maarja Purga – eine Referenz auf traditionelles bäuerliches Leben auf dem Land. Dabei schwingt, wie bei den meisten Vertonungen aus Mägis Feder, immer auch eine gewisse Melancholie mit.
Minimalistische Melodien
Nicht nur textlich hat sich Ester Mägi von estnischer Tradition inspirieren lassen, sondern ganz eindeutig auch in ihrer Musik: Sie schreibt minimalistische Melodien und repetitive Themen, die den Musikerinnen und Musikern nicht selten große Präzision und Konzentration abverlangen – kantig, karg und klar wie die Felsen der nordischen Küste.
Gern wird Mägi in ihrer Musik aber noch sehr viel plastischer. In ihrem Lied „Huiked“ zum Beispiel fängt sie verschiedene traditionelle Kommunikationsrufe ein: Hausfrauen, die nach den Hirten rufen; Menschen, die mit Schreien und anderen Geräuschen Tiere vertreiben wollen; Beerenpflücker, die Informationen tauschen; Jäger, die sich Signale geben.
Zu rhythmisch koordinierten Rufen wie diesen haben Estinnen und Esten in der Vergangenheit Boote zu Wasser gelassen, Gegenstände gehoben oder Baumstämme geflößt. Mit Stimme, Flöte und Gitarre versetzt Mägi die Zuhörerin in eine Zeit zurück, in der das Rufen zentraler Teil des täglichen Lebens war.
Bescheiden und taktvoll
Dabei war Ester Mägi selbst keine typische auf Provokation setzende Revoluzzerin – Zeitzeuginnen beschreiben sie vielmehr als außerordentlich bescheidene und taktvolle Person mit einer ruhigen, beharrlichen Art.
Auf diese Weise verschaffte sie sich zwischen ihren berühmt gewordenen männlichen Komponisten-Zeitgenossen Eino Tamberg, Veljo Tormis, Jaan Räts und auch Arvo Pärt ein stabiles Standing. Sie ist sogar die einzige zwischen 1910 und 1929 in Estland geborene Komponistin – auch unter den Männern –, deren Werk fester Bestandteil des estnischen Repertoires geworden ist.
Herausragendes künstlerisches Talent
Ihr Name, heißt es im Booklet, wurde mehr und mehr zum Synonym für herausragendes künstlerisches Talent – Werke wie ihre „Bukoolika“ für Orchester und ihre Klavierstücke „Vana kannel“ und „Lapimaa joiud“ gehören demnach „zu den originellsten Schöpfungen“ der 1980er Jahre.
Zur gleichen Zeit, 1984, hat sie auch das Lied „Banatühja petmine“ komponiert – eine verspielte, pastellfarbene Klangstudie, die verschiedene Facetten des Zusammenspiels von Stimme und Klavier voll auskostet. Das vorliegende Album bietet eine Weltersteinspielung.
Album der Beginn einer Renaissance?
Warum Ester Mägis Musik nicht viel präsenter auf den Bühnen und in den CD-Regalen ist, ist schwer nachvollziehbar. Vielleicht liegt es, wie so oft, einfach nur daran, dass sie eine Frau war?
Dank dieses Albums nun gelangen immerhin sieben der 27 eingespielten Lieder überhaupt ein erstes Mal als Aufnahme an die Öffentlichkeit. Ester Mägis Musik fasziniert ab dem ersten Ton – hoffentlich ist das hier der Beginn einer Renaissance ihres Schaffens.
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