Es gibt mittlerweile mehr als 500 Einspielungen von Franz Schuberts „Winterreise“. In zwei Dritteln der Fälle sind es Sänger in Bass oder Bariton, dabei hatte Schubert seine erste Fassung des Zyklus für hohe Lage komponiert. Die jüngste Neuaufnahme hat ein Tenor vorgelegt, der Franzose Cyrille Dubois. Seine Lesart der „Winterreise“ ist sehr hell, leidenschaftlich und ergreifend, meint Kritikerin Eleonore Büning.
Operntenor Cyrille Dubois wagt sich an die „Winterreise“
Schon wieder eine neue „Winterreise“! Diesmal mit einem Tenor, dem Operntenor Cyrille Dubois. Er ist eines dieser seltenen Exemplare, die über Leuchtkraft und Leichtigkeit eines „tenore di grazia“ verfügen.
Es gab nie viele davon. Alfredo Kraus war so ein „tenore di grazia“, Juan-Diego Florez passt in dieses Belcanto-Fach. Aber die beiden hätten sich niemals an das Allerheiligste deutscher Liedkunst gewagt. Cyrille Dubois dagegen singt Schubert – lupenrein und glasklar
So klangschön, so jung und schnell bricht dieser Winterreisende auf, dass auf seinem „Weg, gehüllt in Schnee“ schier das Eis schmilzt.
Aussdrucksstark und beinahe akzentfrei
Cyrille Dubois singt beinahe akzentfrei. Nur bei wenigen Winzigkeiten, dem weichen „t“ in „gehüllt“ zum Beispiel, könnte man denken, dass er kein Muttersprachler ist.
Allerdings hat Dubois schon vor dieser „Winterreise“ von Franz Schubert, nach Texten von Wilhelm Müller, Erfahrungen gesammelt mit deutschem Repertoire. Vor Jahren hatte er bereits Lieder von Franz Liszt aufgenommen, hauptsächlich deutschsprachige. Ein hoch gelobtes Album!
Sein individuelles Timbre fiel auf, seine Bardenstimme. Und seine Dynamik. Auch diesmal wieder, bei Schubert, ist die Vielfalt des Ausdrucks bei Dubois außergewöhnlich.
Power und Schelz der Belcanto-Stimme
Dubois dringt tief ein in die für das Lied so wichtige Verschmelzung von Text und Musik. Fließende Veränderungen der Gestalt, der Akzente und Farben. Mit der Krähe spricht er intim, fast wie mit sich selbst und aus dem Sprechgesang wächst der Ton wie von selbst ins scharf pointierte Forte hinüber.
Dubois setzt sogar Power und Schmelz seiner Belcanto-Stimme ein, wenn ihm die romantischen Todes-Metaphern so etwas abverlangen wie Emphase oder Spott oder Zorn.
Anders als andere Schubertsänger heutzutage setzt Cyrille keine Triller, Doppelschläge und andere historisch beglaubigte Verzierungen ein. Doch er singt, wie im Belcanto der Schubertzeit üblich, auch Portamenti.
Eine Aufnahme wie eine kleine Oper
Und er gestaltet die Handlung der „Winterreise“ wie eine kleine Oper, mit Ariosi und Rezitativen. Auch der Stillstand der „Reise“, gemeinsam mit der Pianistin Anne Le Bozec, gespiegelt, in langen Fermaten. Die beiden nehmen sich Zeit, für Rückblick und Erinnerung.
Anne Le Bosec nutzt das Pedal, sie spielt einen Steinway. Sie ist eine gefragte Liedpianistin und Dirigentin, Professorin in Paris, hat auch in Deutschland gelernt und gelehrt.
In Okzitanien, irgendwo auf dem Lande, leitet Le Bosec ein feines, kleines Kammermusikfestival. Und hier, in La Grange de Mels nahe Aubrac, ist während der Pandemie diese Aufnahme entstanden, abgeschieden von der Welt. Auch das hört man.
Cyrille Dubois bietet eine ergreifende Lesart
Viele große Tenöre haben diese 24 schauerlichen Lieder schon gesungen. Diese neue Einspielung, mit einem französischen „ténor de grâce“ hat einen ganz besonderen Reiz.
Die sehr helle, leidenschaftliche Lesart von Cyrille Dubois vermittelt den vormärzlichen Eindruck, dass sich hier ein noch junger, zorniger Mensch von der Gesellschaft entfernt. Eine ergreifende Lesart. Muss man gehört haben.