Sebastiano d'Ayala Valvas Film über ein ungewöhnliches Projekt
Mit besonderer Spannung wurde bei den Donaueschinger Musiktagen 2023 die Uraufführung des ersten Werkes für Symphonieorchester der 91-jährigen Komponistin Éliane Radigue, Pionierin der elektronischen Musik, erwartet. Ihr Stück Occam Océan Cinquanta, das sie gemeinsam mit der Komponistin Carol Robinson entwickelte, stellt das SWR Symphonieorchester vor außergewöhnliche Herausforderungen: es kommt ganz ohne Partitur aus und beruht allein auf mündlicher Überlieferung. An die Stelle der üblichen Probenabläufe des Orchesters setzen Radigue und Robinson radikal einen gemeinsamen Entwicklungsprozess, in dem den Musiker:innen eine ungewohnte Rolle zukommt – geteilte Kreativität statt Geniekonzept. Da Radigue aus gesundheitlichen Gründen nicht selbst reisen kann, vertraute sie die Entwicklung und Einstudierung Carol Robinson an. Der Filmemacher Sebastiano d'Ayala Valva hat den Entstehungsprozess von Occam Océan Cinquanta von der ersten Begegnung Robinsons mit einer kleinen Gruppe von Musiker:innen über die Probenarbeit mit dem Orchester bis zur Uraufführung begleitet und mit Stehende Wellen einen so poetischen wie eindrücklichen Film geschaffen.
Werktext von Carol Robinson zu Occam Océan Cinquanta
(English version below)
Occam Océan Cinquanta ist die jüngste Komposition des umfangreichen Zyklus Occam Ocean. Das Werk ist speziell für fünfzig Musiker:innen des SWR Symphonieorchesters konzipiert und driftet durch eine Vielzahl sich überlagernder Wellenbewegungen wie auf einem flüssig gewordenen Pfad. Wie jedes Occam-Stück ist es von den Bewegungen des Wassers inspiriert, entweder von den tiefsten Meeresströmungen oder von den kleinsten sprudelnden Wellen. Die Komponistinnen arbeiten mit den Musiker:innen auf mündliche Art und Weise und machen sie so mit einer neuen "Aural-Tradition" oder Tradition des Hörens vertraut, mit einer zunehmend verständlicher werdenden Art des gemeinsamen Musikmachens. Es gibt keine Partitur. Anstatt schriftlichen Anweisungen zu folgen, sind die Musiker:innen aufgefordert, sich von ihren Ohren durch eine bestimmte Abfolge von Interaktionen leiten zu lassen. Auch wenn während der Erarbeitung des Stücks eine gewisse Freiheit besteht, so ist die Musik dennoch nicht improvisiert. Ähnlich einer Wasseroberfläche, die unter bestimmten Umständen von Tag zu Tag oder sogar von Minute zu Minute leicht verändert erscheinen kann und dabei doch immer dieselbe Oberfläche, dasselbe Gewässer bleibt. Die Musiker:innen sollen darauf vertrauen, dass die Musik, auch wenn sie jedes Mal etwas Anderes zu sein scheint, immer dieselbe ist. Klänge haben ihre eigene fluktuierende Wahrheit. Um die ganze Subtilität dieser Musik zu bewältigen, sind die größtmöglichen technischen Fähigkeiten und die maximale Sensibilität der Musiker:innen gefordert.
Occam Ocean begann mit einem Stück für Solo-Harfe, das von Rhodri Davies in Auftrag gegeben wurde. Damals, im Jahr 2011, konnte niemand ahnen, welche Fülle an Musik sich daraus ergeben würde. Inzwischen gibt es siebenundzwanzig Solostücke für viele verschiedene Instrumente. Das letzte, Occam XXVII, wurde 2019 für Dudelsack komponiert. Bereits 2012 hatte Éliane Radigue begonnen, Material aus den Solowerken zu Ensemblestücken zu kombinieren, von Duos bis zu Septetten. Da oft dieselben Musiker:innen an den sich entwickelnden Kombinationen beteiligt waren, wurde Radigues musikalische Sprache für akustische Instrumente sowohl gewagter als auch besser realisiert. Interessanterweise sind die sich daraus ergebenden Schichten simultaner Schwingungen sehr eng mit der klanglichen Komplexität ihres elektronischen Werks verwandt. Diesen intuitiven, bildorientierten Ansatz hat sie bei insgesamt vierundsiebzig Werken angewandt, darunter Occam Ocean I & II für große Ensembles. Occam Océan Cinquanta mit seinen wahrhaft orchestralen Dimensionen ist der aktuelle Höhepunkt des Zyklus.
Wie in jedem Occam-Stück lösen sich auch in diesem neuen Werk zeitliche Bezüge auf durch sanft pulsierende Obertöne, Subtöne und Teiltöne, die sich überlagern, während sich graduelle Farbverschiebungen durch das Orchester bewegen. Es gibt keine Melodien an sich, sondern ausgedehnte Klänge, die zum Innehalten und Nachdenken anregen. Die Besetzung, in der es keine Oboen und Hörner gibt, konzentriert sich auf mittlere und tiefe Tonlagen. Es gibt nur minimale Skordaturen und einen begrenzten Einsatz von Blasinstrumenten. Rhythmus und Timing entwickeln sich aus der durch innere Schwingungen erzeugten Spannung. Diese Konzentration auf schwingende Obertöne erzeugt verblüffende akustische Effekte, und die Musik zieht die Zuhörenden in ihr Innerstes hinein.
Die Zusammenarbeit von Éliane Radigue und Carol Robinson
Éliane Radigue und Carol Robinson arbeiten seit 2006 zusammen, erstmals als Komponistin und Klarinettistin bei der Entwicklung des groß angelegten Naldjorlak-Trios. Im Laufe der weiteren Zusammenarbeit an zahlreichen Stücken des Occam-Zyklus wurde ihre Verbundenheit immer stärker. Ihr erstes gemeinsam komponiertes Stück entstand aus einer bestimmten Notwendigkeit heraus. Occam Hexa II wurde 2015 vom Decibel Ensemble in Auftrag gegeben und erforderte Arbeit vor Ort in Perth in Australien. Eine so lange Reise war für Radigue nicht möglich. Deshalb reiste Robinson dorthin, um direkt mit den Musiker:innen zu arbeiten.
Seitdem haben die beiden mehrere weitere Stücke für Ensembles unterschiedlicher Größe gemeinsam komponiert. Einzigartig an ihrer Zusammenarbeit ist, dass sie sowohl theoretisch als auch praktisch ist, denn Robinson hat nicht nur ein natürliches Verständnis für diese besondere Musik, sondern hat sie als Instrumentalistin auch selbst erfahren. Dabei hat sie die feinen physischen Schwingungen erzeugt, die diese Musik so besonders machen. Für Occam Océan Cinquanta hat Robinson die Vorbereitungen und die Arbeit vor Ort übernommen.