Donaueschinger Musiktage 2014 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2014: "Carnaval"

Stand
Autor/in
Salvatore Sciarrino
Übersetzung
Barbara Maurer (aus dem Italienischen)

Als Maurizio Pollini mich bat, wieder einmal für ihn zu komponieren, wollte er mir alle Freiheit lassen. Er legte Wert darauf, dass ich mich an keinerlei Schema hielte, sondern an das Abwegigste und Persönlichste, was ich wollte.

Zum Glück hat mein Freund das Geschenk seiner Einladung so zum Ausdruck gebracht. Ohne diese Anregung nämlich wäre Carnaval, das man keinem vorhandenen musikalischen Genre zuordnen kann, gar nicht entstanden.

In die Idee eines Buches, einer Gedankensammlung oder -nische fließen mehrere Projekte ein: die konzertierten Madrigale, die zwei Sätze einer neuen Kantate über die Stille und eine Kammersonate mit solistischem Klavier; sie hat schließlich die Konturen des Andersartigen, nach dem ich suche, aufblitzen lassen.

Das Ganze bildet einen Weg aus 12 Stationen über das künstlerische Schaffen, sein Entstehen und sein flüchtiges Wesen. Nennen wir die Gesangsstücke, die zu Carnaval gehören, konzertierte Madrigale. Die Gruppe der ersten neun mit dem Titel Così dice lo scultore di prue/So spricht der Bugschnitzer basiert auf einem einzigartigen Text.

Neuguinea, die Insel Kitawa, Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Es ist die Heimat der Zeremonienboote mit verziertem Bug und ausladenden Formen. Ein alter Kunstschnitzer namens Towitara schenkt seinem Lehrling eine poetische Formel, um ihn in die Kunst einzuweihen. Er beschwört vor allem zwei Figuren herauf (in die er sich selbst und den anderen projiziert), welche sich über das Wasser beugen, als würden sie darin lesen; zusammen erlangen sie den Traum vom Traum, den Traum des Wassers, als Spiegel und Linse der Welt, anderer Welten. Die Transparenz der Vorstellungskraft lässt sie freudig Erfindungen für die Freunde machen. Die Transparenz wird es dem Jungen ermöglichen, sich in den Meister zu verwandeln.

Es ist reines Wasser, Quellwasser aus der Tiefe, nicht das Meerwasser, durch welches das Boot später fahren muss. Im Traum vom Traum wird die Intuition selbst zur Flüssigkeit, zum Bildermurmeln.

Die Vision zerschellt mit dem Hereinbrechen eines phantastischen Wesens, halb Mensch, halb Vogel, sozusagen als Bestätigung der Doppelnatur künstlerischen Schaffens, welches die von ihnen erträumten Figuren in die Gegend spritzt (sie also vervielfältigt). Die gesamte Formel ist zwar in musikalische Strophen gefasst und durch Pausen abgesetzt, verlangt jedoch ununterbrochene Kontinuität.

Die beiden letzten Madrigale (Nr.10 und 12) sind davon eher abgesetzt; sie umrahmen sozusagen den Instrumentalsatz. Die hier verwendeten Texte haben mehr als ein Jahrzehnt in einem Aktenordner hinter mir gelegen, bevor sie ein zweites Mal auf meinem Tisch landeten und schließlich in Klang gefasst wurden. Für alle beide habe ich an chinesischen, dem Zen zugeschriebenen Quellen getrunken.

Man könnte die folgende Sichtweise auf Musik für zeitgenössisch halten, in Wirklichkeit ist die Unterscheidung zwischen Musik, die die Sinne betäubt, und Musik, welche sie aufweckt, jedoch uralt. Hier wird sie durch einen Schüler des Konfuzius namens Dian ausgesprochen: Während wir mit dem Ohr ins Unhörbare sinken, beginnt das Bewusstsein zu klingen. Durch die Nacktheit weniger Töne erschließt sich uns in der Leere die Entdeckung der Nacht. Den Worten Dians werden andere Fragmente hinzugefügt, sie stammen von Zhuangzi (4.Jhdt.v.Chr.), kommentiert von Guo Xiang (3.Jhdt.n.Chr.) und einige Zeilen aus Kapitel XI, Xian Ying, der Lehrgespräche des Konfuzius.

Tao Yuanming, der als Naturdichter gilt, stammt aus dem 4. Jahrhundert; im rezitativischen Finale von Carnaval zeigt er uns die mentale Kraft, welche die Stille befruchtet.

Lasciar vibrare/Schwingen lassen (Nr.10) ist ein zweistimmiger Kanon und neigt sich von den weiblichen Bereichen zu den männlichen hin; gegen Ende steigen wir mit den Abdrücken der metallischen Stigmata aus dem Mittelteil wieder hinauf, von den Männern zurück zu den Frauen.

Warum Carnaval? Ich weiß freilich, dass der von Schumann abgeschaute Name mit einer jahrhundertealten Überfülle an Charakterstücken beladen ist. Hat denn meine Musik etwas mit dem phantastischen Repertoire zu tun? Ich bin nun einmal ein Komponist, für den die Ausarbeitung der Titel eine erhebliche, wenn auch nur Bezug schaffende Rolle spielt. Da kommt mir eine Hommage an Schumann natürlich gelegen, dem sich seltsamerweise Towitara hinzugesellt (für den die Kunst ein unerschöpflicher Stoff ist, der aus den Träumen entsteht). Mit Schumann könnte diese Musik entfernte Ähnlichkeiten aufweisen, aufgrund der zyklischen Fragmentierung der Form und der durchgehenden Abwechslung in der Reihenfolge der Stücke, voller Überraschungen und Kontraste.

Carnaval heißt also Odyssee: Das Auge eines Fremden richtet sich auf ein uns vertrautes Land. Oder: Unser gewohntes Auge ruht auf einem veränderten Leben. Maske, Schein und Doppelspiel, mehr als das: Verstecken und Entdecken, Offenbarung. Sklavenaufstand, Feier der verkehrten Welt, bewusste Erforschung der Identität. Wachsen heißt im psychologischen Verständnis: von sich aus zum Anderen hin gehen.

Ich sprach mit dem Geometer, einem Freund (er hat sein Büro unten bei mir im Haus), während auf dem Türgesims sich eine außergewöhnlich große Fliege putzte. Nach ein paar Tagen bat ich um Erlaubnis und malte die fette Fliege auf den Stein, genau dahin, wo sie gesessen hatte. Ich frage Sie, und ich frage mich: Was ist das?

Eine Kreisbewegung der Vorstellungen (vielleicht ein Traum) und ein Andenken, welches das Vergehen der Zeit unterbricht. Ein widersprüchliches Fließen, in beide Richtungen, das eine der heimlichen Grundlagen der Kunst bildet. Die Schönheit blüht auf, zerbrechlich, wenn man dem Werden der Dinge zuhört, und führt zu einer hohen Form von Sehnsucht ohne Verlust.
Carnaval: eine Menge seltsamer Figuren, aus denen sich eine weitere Sammlung von Titeln, Gedanken und Darstellungen ergibt. Observatorium. Intimer Raum für die Vorstellungskraft.

Nachbemerkung: Nr.1-6 komponierte ich in einem Dorf am Po nahe bei Ferrara, im Haus eines Freundes (Januar-Februar 2010), Nr.7-10 in Città di Castello (März-April 2011).

Così dice lo scultore di prue /So spricht der Bugschnitzer (2010-2011)

Nr.1 Wen siehst du dort, sanft gebeugt?
Du und ich sind es, die Bilderschöpfer,

Nr.2 Sanft gebeugt übers Wasser
Welches den Felsen entspringt.

Nr.3 Unser Geist, besessen vom Traum,
Wird Bilder finden.

Nr.4 Traumverloren werden wir Bilder
Für unsere Freunde erfinden

Nr.5 Und du wirst dich in mich verwandeln,
Du wirst ich werden, dein Meister.

Nr.6 Traumverloren werden wir Bilder erfinden.
Die Intuition wird Bilder murmeln,

Nr.7 Zitternd wird sie Bilder erfinden,
Zitternd wie Quellwasser,

Nr.8 Wie Wasser, das den Felsen entspringt.
Und da, der Schrei, der Vogelheld,

Nr.9 Er bläst, er spritzt erregt
Die geträumten Bilder herum.

(Towitara Buyoyu, neu zusammengestellt von Salvatore Sciarrino, 2007)

Nr.10 Lasciar vaibrare/Schwingen lassen (2011)
Voller Klang
betäubt,
zarte Stille
trägt die Gesänge,
lass zu, dass der Klang
seine Schwingung küsst
lass

(S.Sc., 1999, nach alten chinesischen Fragmenten)

Stand
Autor/in
Salvatore Sciarrino
Übersetzung
Barbara Maurer (aus dem Italienischen)