Donaueschinger Musiktage 2000 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2000: "A.R.C.H.E."

Stand
Autor/in
Wolfram Schurig
Wolfram Schurig

Wolfram Schurig

1. Affinitäten/Abneigungen

Saxophon, Schlagzeug, Klavier: Ohne mich! Das war mein erster Gedanke als vor einiger Zeit das Trio Accanto versucht hatte, bei mir um ein neues Stück anzuklopfen. Wären inzwischen nicht mehrere Jahre Bedenkzeit vergangen, während derer ich immer wieder über möglichen und unmöglichen Realisationen von Musik für diese Besetzung gebrütet habe, ich hätte wahrscheinlich wieder abgelehnt. Außerdem: aus einer ästhetischen Tradition kommend, in der es zum Ehrenkodex gehört, Liebgewonnenes kritisch und immer aufs neue zu hinterfragen, technisch gesprochen: zu dekonstruieren und hernach wieder zusammenzubasteln, um ihm erneut irgendwas Liebenswertes anzudichten (jedenfalls bis zur nächsten Demontage....), schien und scheint es mir dringend, im mir musikalisch Abstoßenden nach verschütteteten Qualitäten zu graben, die zunächst einmal nicht a priori musikalisch sein müssen, sondern – wie in diesem Fall – mit instrumentalen Traditionen und üblichen Rollenverteilungen in der kammermusikalischen Praxis zu tun haben. Der ausübende Musiker in mir kommt eben doch immer wieder um die Ecke. Konsequenterweise bedeutet das, spezifische instrumentale "Attitüden" in den Stand von kompositorischen Kategorien zu heben: die impertinente Dominanz sportiven Herumtobens in der romantischen Klavierliteratur, das selbstvergessene Saxophon-Gefiepse in der avancierten Improvisationsmusik, die so unvermeidliche wie tautologische Schlagzeug-Aufdoppelung als dramaturgische Geste musikalischer Höhepunkte. Das ist die hörbare Ausgangssituation im Stück. Es ist mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Auseinandersetzung mit diesen Idiosynkrasien kein präkompositorischer Vorgang ist, um dann im Stück selber zum ästhetisch Erprobten zurückzukehren: sie beginnt gewissermaßen mit der ersten Note.

2. "A.R.C.H.E."

Eine Setzung verschiedener instrumentaler Handlungsschemata als Ausgangssituation ist natürlich noch keine Musik, auch wenn sie ein hörbares Resultat zeitigt. Nachdem es aber darum geht, das musikalisch Spezifische genau dieses hörbaren Resultats zu präzisieren, sind Strategien, die darauf abzielen, gestalterisch so lange am Ungenießbaren herumzuwerkeln, bis es genießbar geworden ist, das also, was üblicherweise als kompositorisches Handwerk bezeichnet wird, fehl am Platz. Die Entwicklung einer kompositorischen Methode geht in diesem Fall von der Überlegung aus, das jede akustische Situation differenziert werden kann: in musikalische Eigenschaften, die dem klanglichen Milieu zuzuordnen sind, und solche mit Gestaltcharakter. Wird nun das Milieu verändert, so spezifizieren sich die musikalischen Eigenschaften der Gestalten jeweils neu, auch wenn letztere unverändert bleiben. In anderen Worten: die gestaltbildenden Elemente harren zeitweise gewissermaßen in ihrer Arche aus, um dann in veränderter Umgebung wieder entlassen zu werden, wodurch eine neue Ausgangssituation mit den gleichen Beteiligten entsteht usw...Das ganze Unterfangen wäre nicht mehr als ein musikalisches Exerzitium, wäre nicht schon der Beginn des Stückes paradigmatisch für permanent sich einstellende Situationen im Verlauf des Stückes, nämlich ein derartiger Extremfall, dass man sich als Komponist ernstlich fragen muss, wo und wie denn bitteschön die zurechtgelegte Methode greifen soll, wenn die Turbulenz der Ereignisse Gestalten zu ihrer eigenen Umgebung verdichtet und diese wiederum nur vermittelt durch die Flut schemenhafter Gestalten erfahrbar wird. Da aber fängt Komponieren an: mit der Lösung unlösbarer Aufgaben. Noah packte die Sintflut in seine Arche und brachte sie ins Trockene. Das hätte uns wahrscheinlich einiges erspart.

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Wolfram Schurig
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