Donaueschinger Musiktage 2002 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2002: Jennifer Walshes "Here we are now"

Stand
Autor/in
Jennifer Walshe, Übersetzung aus dem Englischen: Lydia Jeschke

"Jennifer Walshe verarbeitet Klänge und Wagnisse auf ihre eigene Weise, sei es, um eine Geschichte zu erzählen, sei es, um im Widerspruch zu dieser Geschichte zu stehen. Die Verwendung theatralischer Elemente ermöglicht es ihr, das Gefühl von Vibrationen hervorzurufen. Unerschütterlich sucht sie nach Alltagsklängen aus dem kleinen Drama ihres Lebens und versucht, den Aufführungsraum in den bescheidenen Raum ihres eigenen Zuhauses zu verwandeln."

(Amnon Wolman)

Ein großer Teil meiner Musik, sei sie vokal oder instrumental, ist durch meine Erfahrungen als Improvisationskünstlerin geprägt. In den letzten fünf Jahren habe ich in Chicago gelebt, wo ich vielfach Gelegenheit hatte, mit verschiedenen improvisierenden Musikern aus der Gegend aufzutreten. Diese Erfahrungen haben die Art und Weise, wie ich über Klang denke, grundlegend beeinflusst. Die Improvisation gibt mir nicht nur Gelegenheit, in eine Situation der totalen Fokussierung des Klangs einzutauchen, sondern auch die Möglichkeit zu Testläufen meiner kompositorischen Ideen in Echtzeit. Ich gehe zu einem Gig und entdecke, dass ich Fragmente aus dem Stück singe, an dem ich im Verlauf des Tages komponiert habe - das Ergebnis ist eine extrem intime Beziehung zu den Klängen. Ironischer Weise enthalten meine Kompositionen kaum improvisatorische Anteile während der Aufführung; wenn ich einmal die Klänge ausgewählt und geschliffen habe, verwende ich viel Zeit darauf, Systeme auszuarbeiten, nach denen ich sie so genau wie möglich notieren kann.

Die Klänge, die ich - als Komponistin oder als Improvisationskünstlerin - verwende, stammen häufig aus der Popularmusik. (Ich verwende den Begriff "Popularmusik" als zusammenfassende Bezeichnung für eine große Vielfalt von Genres: Pop, Rock, Hip Hop etc.) Es ist die große Vielfalt der Stimmentypen, die mich in der Popularmusik am meisten anspricht. In den vergangenen zwei Jahren habe ich an der Northwestern University Popularmusik und Gender studies unterrichtet, ein besonderer Fokus der Analyse lag dabei in der Frage, wie durch die Klangfarbe der Stimme Bedeutung geschaffen werden kann. Künstler wie PJ Harvey, Björk, Janis Joplin und Mary J. Blige zum Beispiel malen jede einzelne Silbe und Note ihrer Songs mit verschiedenen Anteilen ihrer Stimme. Angeregt von semiotischen Theorien und den Ideen von Wissenschaftlern wie Roland Barthes, Philip Tagg und John Shepherd haben meine Kursteilnehmer untersucht, wie zum Beispiel die Verwendung stark nasaler Klangfarben besondere Konnotationen zu Sexualität und Kraft aufweist. Dies hat mich umgekehrt dazu gebracht, nicht nur vokale, sondern alle musikalischen Klänge in einem semiotischen Kontext zu untersuchen und die Verbindungen zwischen Klängen und ihrer Bedeutung im alltäglichen Leben zu betrachten.

Viele der Klänge, mit denen ich mich befasse, sind an spezifische physische oder psychologische Situationen gebunden. Ich höre sie als sehr persönliche Klänge, und als Komponistin versuche ich, sie zu isolieren, indem ich so viel wie möglich von ihrem emotionalen Kontext wegputze und sie in einem neuen platziere. Ein schreiender Klang kann das Ergebnis von Furcht, Wut, Lachen oder Ekstase sein. Für mich ist es interessanter, wenn der Kontext nicht explizit wird, wenn es dem Hörer überlassen bleibt, seinen eigenen Zusammenhang abzuleiten oder hinzuzufügen. Natürlich ist es unmöglich, alle Zusammenhänge auszumerzen - es wird im Klang oder in unserer Wahrnehmung des Klanges immer ein Rest davon bleiben. Wären diese Klänge ein Text mit vierzig Seiten, würden etwa die Seiten 3, 5 bis 11, 13, 16 bis 24, 27, 29 und 31 bis 38 fehlen.

In "Here we are now" wollte ich eine Situation schaffen, in der die vier Interpreten zusammen auf der Bühne platziert sind und zur selben Zeit und im selben Raum spielen - statt aber als Ensemble zu agieren, in jeweils eigenen Privatwelten verhaftet sind. Verbunden in ihrer Isolation. Ich habe das Stück als vier Solostücke komponiert, für jeden Interpreten eines. Jedes dieser Stücke entstand unabhängig, ohne Bezug zu den anderen und ohne den Versuch, sich nach einer spezifischen Struktur oder Situation zu richten. Als die vier Stücke fertig waren, habe ich sie nebeneinander gehalten, sie verändert und bearbeitet, damit sie ein Stück für vier Aufführende ergaben. Dem Hörer steht es zu jeder Zeit frei, einen oder mehrere Interpreten besonders zu fokussieren.

Stand
Autor/in
Jennifer Walshe, Übersetzung aus dem Englischen: Lydia Jeschke