Der Westen von heute liebt die Revolutionen; er liebt sie, unterstützt sie und exportiert sie mit Begeisterung, bereit, seine glücklichen Kunden gegebenenfalls auch ein wenig zu bombardieren, damit sie noch besser verstehen, welche fabelhaften Vorteile die Demokratie ihnen bietet.
Durch die Widersprüche, die aus diesem etwas speziellen ideologischen Handel entstehen, produziert der Westen (ohne es zu wollen) die Bedingungen für die Kritik an der demokratischen Ideologie, wie sie sich in den letzten fünfzig Jahren etabliert hat, und für die ich von Alain Badiou die sehr treffende Bezeichnung "parlamentarischer Kapitalismus" übernehme.
Die jüngste Geschichte hat es mehrfach gezeigt: Volksaufstände im Ausland wurden durch den Westen von ihrer emanzipatorischen Ausrichtung abgedrängt, um sie in Richtung eines normativen Wahlprozesses zu lenken, wie man ihn bei uns kennt. In der Folge kommt es zu jenen typischen Enttäuschungen, wie sie Wahlen unweigerlich mit sich bringen: Die Rückkehr der alten etablierten Parteien, die meist konservativ und religiös ausgerichtet sind und in jedem Fall schon Garanten der Ordnung vor dem Aufstand waren. Der Westen ist dann enttäuscht; er hätte es gerne gehabt, dass alles in die richtige Richtung geht, aber das Experiment Volk / parlamentarische Demokratie hat nicht die erhoffte Wirkung erzielt. Und dennoch muss man sich entscheiden: Entweder ist man für das Gesetz der Zahl und akzeptiert die Wahlergebnisse oder man gibt zu, dass die ursprüngliche Idee des revolutionären Aufstandes nur eine Minderheit der Bevölkerung hinter sich hat, eine Minderheit, die dennoch gegen die Mehrheit im Recht ist.
Dann allerdings muss die demokratische Ideologie kritisiert werden – sie muss kritisiert werden können aus dem schlichten, aber komplizierten und unbequemen Grund, dass das, was in der Politik als gut und gerecht gelten kann, nicht einfach auf eine Frage von Zahlen, auf eine rein arithmetische Mehrheit reduziert werden kann: Völker können sich irren; politisch emanzipatorische Ideen sind so gut wie nie ein Anliegen von etablierten alten Parteien, sondern von schwachen Minderheiten. Tatsächlich kommt man um die Feststellung nicht herum, dass heutzutage die pro-demokratischen, auf ein Parlament ausgerichteten Revolutionen anderswo willkommen sind, eventuell unterstützt und als Ausfuhrprodukt geplant werden, und dass dagegen im siegreichen Westen den klugen Köpfen von der Beschäftigung mit wirklich emanzipatorischen Ideen nachdrücklich abzuraten ist.
Ich komme nun genauer zu meinem Werk Un-Ruhe – zumindest auf dessen erstes Heft und hoffe, man wird mir diese kurze, aber notwendige Klarstellung des allgemeinen politischen Kontextes, in dem das Werk historisch steht, verzeihen. Der Begriff "politisch engagierte Kunst" wird heute als eine lange schon veraltete, sozusagen "prähistorische" Fragestellung betrachtet, die man gerne mit einem mitleidigen Lächeln quittiert. Und das ist auch ganz verständlich: Nicht einverstanden zu sein bedeutet in den Zeiten der Globalisierung, sich einen Feind einzuhandeln, der ungefähr doppelt so mächtig ist wie früher. Und gerade weil der Feind mächtiger ist, ist es gut, im Detail auf die Problematik des "Engagements" zurückzukommen. Und hier als erstes: engagiert für was und durch was?
Engagiert zunächst insofern, als das Kunstwerk zugleich Thema und Zeichen des Engagements transportiert; unter diesem Gesichtspunkt steht es, genau genommen, außerhalb des Engagements, es ist vielmehr ein Text oder ein Bild, in dem Engagement und Kunst wirklich zusammentreffen. Ehrlich gesagt ist das bei der überwältigenden Mehrheit der Werke aus der Kategorie "engagierte Kunst" der Fall, die man, objektiv betrachtet, als "indirekt engagierte Kunst" bezeichnen könnte.
Engagiert sodann, oder vielmehr im Gegenteil, durch eine Denktechnik, die dem Werk und dem Gegenstand des Engagements gemeinsam ist. Dieser Ansatz besteht zunächst darin, sich nichts vorzumachen und die beiden Blickwinkel der Frage durch eine "phänomenologische" Brille zu betrachten*. Aber welche Gebiete sind dem politischen Engagement auf der einen und einem künstlerischen Engagement auf der anderen Seite gemeinsam? Ich möchte mich dazu gerne bei dem Philosophen und Wirtschaftswissenschaftler Frédéric Lordon und seinem etwas vereinfachenden, aber wirksamen Bild der "Rahmenbedingungen" bedienen. Als konservativ kann man dasjenige politische Denken bezeichnen, das es beim Handeln vorzieht, innerhalb eines normativen Rahmens zu agieren, der durch die Geschichte überliefert ist, das heißt durch die Akteure der Herrschaft; und man kann im Gegensatz dazu dasjenige politische Denken als emanzipatorisch bezeichnen, das es vorzieht, die Rahmenbedingungen zu modifizieren oder sogar ganz darauf zu verzichten, um auf diese Weise neue Bedingungen für das Zusammenleben zu schaffen. Ich meine, dass diese Unterscheidung "innerhalb der Rahmenbedingungen versus außerhalb der Rahmenbedingungen" als ideologische Abgrenzung genauso gut auch im künstlerischen Bereich wirksam ist. Ich meine zudem, dass diese Abgrenzung ausschließlich technischer Natur ist und in keiner Weise ästhetische Kategorien berührt.
Un-Ruhe wurde zunächst als ein Gedankenexperiment konzipiert, und das auf zwei verschiedenen Ebenen. Die erste besteht aus einer grundlegenden Umkehrung und wendet diese Umkehrung vor allem auf die gesprochenen Texte an, die aus zwei verschiedenen Quellen stammen: zum einen von Rosa Luxemburg, eine der radikalsten und kompromisslosesten Persönlichkeiten aus der Geschichte unserer revolutionären Vergangenheit**, die von der globalisierten Oligarchie jetzt toleriert wird, eben weil sie eine Persönlichkeit aus der Vergangenheit ist, einer Vergangenheit, von der die elitäre Oligarchie hofft, dass sie endgültig vergangen ist; zum anderen sind es Graffiti, Transparente, anonyme Flugschriften, die auf dem Tahrir-Platz in Kairo ab dem 8. Februar 2011 zu lesen waren, also die noch lebendigen Spuren eines aktuellen Aufstandes, der aber weit genug weg stattfindet und darum akzeptabel ist. Ein Detail allerdings stört die Perzeption dieser transhistorischen revolutionären Achse ein wenig: Die ägyptischen Texte werden in amerikanischem Englisch vorgetragen, par excellence die Sprache der Globalisierung, die Texte von Rosa Luxemburg dagegen sind auf Arabisch zu hören, der Sprache von vielen der heutigen Protestierenden. Das zweite Gedankenexperiment ist zweifellos quantitativ bedeutender. "Revolutionäre Stürme", wie die Chinesen das früher nannten, sind die Folge von Veränderungen, die von eigentlich schwachen politischen Akteuren produziert werden oder von geringfügigen Affektveränderungen bei denen, die im Prinzip nicht unter dem umzustürzenden Herrschaftssystem leiden sollten. In Un-Ruhe wird diese "Schwäche der entscheidenden Akteure" von Interpreten dargestellt, die auf der Bühne spielen: ein leises Cembalo (ich hätte ein Clavichord nehmen und damit die Sache noch deutlicher machen können) und eine Sprechstimme (die ganz am Ende des Werkes nur für einen Augenblick aufhört zu sprechen, um zwei Töne zu singen). Und es sind gerade diese beiden Akteure, die letztendlich den formalen Diskurs des Werkes bestimmen, obwohl sie akustisch unendlich viel leiser sind als die mit notorisch lauten Instrumenten wie Wagner-Tuben bestückten drei Instrumentalgruppen, wobei sie gerade ihre Schwäche benutzen, um den dramaturgischen Verlauf der Musik zu radikalisieren.
Mit großer Freude haben Gertraud Mariam Zotter und ich beschlossen, dieses Werk unserem guten Freund Karim Haddad zu widmen, einem großen Musiker und großen Denker.
* Die Phänomenologie als philosophische Technik (die darin besteht, jedes einzelne Phänomen von jeder Interpretation zu befreien) ist oft von einem dichten Schleier des Geheimnisses umgeben, und tatsächlich sind die wichtigsten Werke von Hegel, Husserl und Heidegger nicht immer von kristallener Klarheit; genau das macht ihren Wert aus. Durch die Hochschule für Musik in Freiburg wandert seit einiger Zeit eine Geschichte, mithilfe derer man sich eine angemessen einfache Vorstellung von dieser philosophischen Technik machen kann: Drei Touristen reisen durch Australien und beschließen, eine Exkursion ins Landesinnere zu machen. Mitten auf einem Feld sehen sie plötzlich ein schwarzes Schaf. Der erste Tourist schließt daraus, dass die Schafe in Australien schwarz sind; der zweite Tourist ist etwas skeptischer und zieht die Aussage vor, dass in Australien mindestens ein Schaf schwarz ist; der dritte, bei dem es sich vermutlich um einen unheilbaren Phänomenologen handelt, stellt fest, dass in Australien mindestens die Hälfte von mindestens einem Schaf schwarz ist.
** Ein Freund hat mir von einem Brief von Feliks Dzierżyński erzählt, dem furchterregenden Begründer der Tscheka, in dem dieser von seiner Angst vor Rosa Luxemburg, deren Sekretär er ab 1902 war, berichtet: "Ich hatte Angst vor dieser Frau, und sie verfolgte mich in den schrecklichsten Albträumen; sie war furchterregend, kompromisslos wie niemand sonst…".
Anmerkungen zum Cembalo des Konzerts
Das Cembalo, eine Kopie eines Instruments von Hans Moermans, Antwerpen 1580, aus einer Privatsammlung, habe ich 2000-2013 gebaut. Das Instrument zeigt mehrere typische Besonderheiten des Cembalobaus der Spätrenaissance und des Frühbarocks, darunter ein geteilter Lautenzug sowie ein "Harpicordium-Zug" (Bleihaken, die gegen die Basssaiten schnarren, wenn der Effekt eingeschaltet ist). Das Einmanual-Instrument ist außergewöhnlich lang (1,98 Meter, im Vergleich zu ca. 1,70 Meter für gewöhnliche Einmanual-Instrumente der Zeit). Der Tonumfang ist ungewöhnlich und reicht bis zum tiefen G; vermutlich war die tiefe Quarte original mit Darmsaiten bezogen: die Spuren der fünf tiefsten Saiten auf dem Stimmstocksteg sind viel breiter und oberflächiger. Die Mechanik in all ihren Aspekten spiegelt viel mehr eine Spieltechnik für Organisten wider als für Cembalisten: Der Anschlag geht tief in der Tastatur, die Dämpfung wirkt sehr direkt, fast abrupt: jeder Springer des 8-Fuß-Registers ist mit zwei Dämpfern aus Hirschleder bezogen. Ich habe derzeit das Instrument mit Geierfedern bekielt: es entsteht dadurch ein sehr direkter Klang, dennoch rund, dazu mit einer reichen Obertonstruktur. Die Anzahl der unterschiedlichen Registrierungen ist erstaunlich groß und umfasst insgesamt 17 Kombinationen, die alle musikalisch relevant sind. Ansonsten stellt das Instrument ein typisches Beispiel der flämischen Dekoration der Zeit dar: Das Gehäuse ist mit "faux-marbre" bemalt, der Resonanzboden mit einem reichen Dekor aus Blumen, Früchten und komplexen, blauen Arabesken verziert. Ich habe versucht, das Originalinstrument mit all seinen Details nachzubauen; dazu zählen auch einige Elemente, deren Funktion mir unklar war; die Interpretation der Musik des nördlichen Europas (Sweelinck, Scheidemann, Byrd usw.) gewinnt aber dadurch letztlich an Klarheit, Langatmigkeit und Architektonik.
- Festivaljahrgänge
- Donaueschinger Musiktage 2014
- Themen in diesem Beitrag
- Brice Pauset, UN-RUHE (Heft 1) für Stimme, Cembalo solo und Orchester
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