Donaueschinger Musiktage 1998 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 1998: "Requiem"

Stand

"Musik interessiert mich nur dann, wenn sie existentiell ist"
Reinhold Dusella im Gespräch mit Iris ter Schiphorst und Helmut Oehring

Helmut Oehring, Iris ter Schiphorst - Requiem
Helmut Oehring, Iris ter Schiphorst - Requiem

Reinhold Dusella:
Wie kamen Sie darauf, in relativ jungem Alter ein Requiem zu komponieren? Spielte der Auftraggeber eine Rolle?

Iris ter Schiphorst:
Einerseits hat uns die Gattung Requiem interessiert, andererseits hatten wir im letzten Jahr mit dem Thema Tod viel zu tun.

Helmut Oehring:
Vorbild ist das Mozart-Requiem, aber auch das Interesse am Musizieren im geistlichen Raum, wo ich meine ersten musikalischen Erfahrungen gehabt habe. Das Mozart-Requiem begleitet mich schon sehr lange und spielte für mich schon eine Rolle, bevor ich überhaupt mit dem Komponieren begonnen hatte. Ausgehend von der Überlegung - was wir in letzter Zeit sehr oft machen, jeder für sich oder auch zusammen - , daß wir ein bestimmtes Stück als Kraftfeld, formal, inhaltlich oder auch besetzungsmäßig nehmen - hat Live ursprünglich Pierrot lunaire oder Prae-Senz, Présence von Zimmermann zum Ausgangspunkt, also Stücke, die uns beide gleichermaßen ansprechen, beschäftigt haben und unter die Haut gehen - dazu eine Nachfolge oder eine Antwort auf das Stück zu schreiben.

Reinhold Dusella:
Gab es für Sie einen konkreten Anlaß, sich mit dem Tod zu beschäftigen?

Iris ter Schiphorst:
Es gab einen konkreten Todesfall, und ich erinnere mich daran, daß ich daher zunächst den Titel Requiem gerade nicht wollte. Wobei ich die Idee, sich auf das Mozart-Requiem zu beziehen, sehr, sehr spannend fand, weil es mir bei diesem Stück ähnlich geht wie Helmut. Aber ich hatte das Gefühl, daß ich mich inhaltlich so sehr mit dem Thema Tod befaßt hatte, daß mir das eigentlich fast zuviel war und daher zu nah war.

Reinhold Dusella:
Schlägt sich die Anregung durch das Mozart-Requiem in irgendeiner Weise konkret nieder?

Iris ter Schiphorst:
Ich weiß nicht, ob es letztendlich hörbar ist, was aber auch nicht das Interessante daran wäre. Das Mozart-Requiem war in gewisser Hinsicht pragmatischer Ausgangspunkt unserer Arbeit. Das heißt, wir haben uns zunächst auf der Grundlage des Mozart-Requiems eine Struktur satztechnischen und zeitlichen Verlaufs erarbeitet, an der wir uns dann beim Komponieren orientiert haben.

Reinhold Dusella:
Handelt es sich um ein intuitives oder ein analytisches Orientieren an Mozart?

Helmut Oehring:
Ich würde schon sagen, daß es teilweise auch ein analytisches Orientieren ist, jedoch nicht in der Hauptsache. Es passieren dann aber auch während der Arbeit Dinge, die uns wieder Abstand davon nehmen lassen. Dinge, die vorher nicht klar sind, und die uns oder jedem für sich dann klar werden und Eingang finden müssen. Die führen uns dann komplett von analytischen Erkenntnissen oder von vorher überlegten Strategien weg.

Iris ter Schiphorst:
Da wir die Erfahrung gemacht haben, daß es günstig für uns ist, mit dramaturgisch strukturierten Vorgaben anzufangen und den kompositorischen Raum zu eröffnen, war allein die dramaturgische Struktur des Mozart-Requiems wichtig.

Reinhold Dusella:
Wie würden Sie dem Vorwurf begegnen, daß Sie einfach nur eine vorhandene perfekte musikalische Struktur für ihre eigene Komposition ausnutzen?

Iris ter Schiphorst:
Wenn es jemand schafft, eine solche Dramaturgie auszunutzen und darauf eine eigene Komposition zu machen, dann hat er meinen vollen Respekt.

Reinhold Dusella:
Was verstehen Sie unter Dramaturgie?

Helmut Oehring:
Die Tatsache, daß es funktioniert als musikalischer Entwurf, als Zeitrahmen, als Raum.

Iris ter Schiphorst:
Das Dramaturgische ist die Struktur, die einen bewegt. Es geht darum, die Stimmung oder das, was daran das Bewegende ist, zu erfassen.

Helmut Oehring:
Es geht für mich nicht nur um Intuition, sondern es geht um etwas, das ich als "Klima", das jeder einzelne Satz und dann das gesamte Werk ausstrahlt, bezeichnen würde. Ich bin daran interessiert, dieses Klima herzustellen. Da ich kein Kirchenmusiker bin oder das Interesse habe, etwas zu zelebrieren, ist meine persönliche Neigung mehr auf die dunklen Seiten des Themas gerichtet.

Reinhold Dusella:
Welche Bedeutung hat für Sie dabei die christliche Tradition der Totenmesse? Hielten Sie es für wichtig, daß Ihr Requiem in einer Kirche aufgeführt wird?

Iris ter Schiphorst:
Es wäre sicherlich ein schönes Erlebnis. Denn der Kirchenraum ist für eine bestimmte Art von Musik ein phantastischer Aufführungsraum, was die Akustik, die Atmosphäre und die Aura angeht. Darüber hinaus hat das Christentum ja auch seine sehr blutige Tradition! Den Unterschied zwischen geistlicher und weltlicher Musik kann ich eigentlich in gar nicht ziehen. Für mich ist eigentlich jede Musik, die mich bewegt geistlich.

Helmut Oehring:
Genau das gleiche wollte ich auch sagen: jede Musik, die haften bleibt, ist für mich auch immer geistliche Musik. Musik interessiert mich nur dann, wenn sie existentiell ist. Das hängt für mich mit geistlich zusammen, nicht in einer Form von Gläubigkeit, aber wenn es um Existentielles geht oder Existenzen - das hat auch mit Sprache zu tun. Wenn ich mich als Mit-Komponist eines Requiems sehe, dann ist das für mich die existentialistischste Form von Musik, die ich mir vorstellen kann. Deswegen fühle ich mich da hingezogen und wollte das "schon immer 'mal machen".

Reinhold Dusella:
Warum ein Text von Anne Sexton?

Iris ter Schiphorst:
Es gab zunächst mehrere Ideen. Dann ist uns der Text von Anne Sexton untergekommen. Da uns die Person Anne Sexton und ihr gesamtes Leben und Denken beide sehr interessiert - z. B. haben wir auch den Live-Text von ihr genommen - war dieses Unterkommen ein schöner Zufall, denn die Nine Psalms, die sie da kurz vor ihrem Tod geschrieben hat, die sind schon sehr verrückt. Sie sind auf den ersten Blick weder geistlich noch weltlich, auf den zweiten Blick jedoch äußerst geistlich. Die Nine Psalms wollte Anne Sexton zusammen mit anderen Texten zunächst unter dem Titel The Death Notebooks posthum veröffentlichen lassen, hat sich dann aber doch entschieden, sie noch zu Lebzeiten herauszugeben.

Helmut Oehring:
Faszinierend ist aber, daß es eine Sprache ist, die am Rande einer Existenz geschrieben ist. Und damit ist für mich wieder der Kreis zu dem geschlossen, was wir vorher über das Musikalische besprachen, daß ich durch Zufall oder durch Nachforschen auf diese Fixpunkte des am Rande Balancierens von Sprache oder Leben stoße. Nur die Dinge interessieren mich wirklich.

Reinhold Dusella:
In welcher Form ist für Sie, Herr Oehring, der Sie sich von früher Kindheit an auch mit "Sprachlosigkeit" beschäftigen mußten, Sprache an sich etwas Existentielles?

Helmut Oehring:
Ich habe schon als Kind den Zwiespalt zwischen den Sprachen, die Dünnhäutigkeit von Sprache empfunden ... wahrscheinlich zu früh für einen Menschen empfunden. Das macht mich sehr wach und empfindsam für Sprache - auch mißtrauisch und ängstlich. Buchstabensprache, ob geschrieben oder gesprochen, ist für mich leider überhaupt nichts Existentielles.

Iris ter Schiphorst:
Für mich dagegen sehr. Was - pathetisch gesagt - das Mensch- sein auszeichnen könnte oder was es so anrührend macht, ist doch im besten Fall der Wille auszudrücken, der Wille zu kommunizieren und zwar trotz des Wissens, daß man ständig versagt, daß die entscheidenden Dinge gar nicht gesagt werden können. Weil die Bedeutung nicht stimmt; weil die Worte, die existieren, einfach nicht passen etc. Es ist vielleicht dieses Randgebiet, was mich persönlich interessiert. Man gerät in einen Zustand, wo man der Sprache gar nichts mehr zutraut, aber dennoch weiterredet.

Reinhold Dusella:
Aber wie finden Sie, bei einer unterschiedlichen Grundauffassung, trotzdem zusammen?

Helmut Oehring:
Kommunikation und Sprache ist für mich natürlich wichtig, aber ich könnte sowohl auf die Form der Laut- und der daraus resultierenden Schriftsprache verzichten, denn das hat mir eigentlich nur immer Probleme gemacht. Ich lebe in einer Welt, deren Basis es ist, sich durch Lautsprache zu verständigen, und nicht in einer Welt von Taubstummen, die gebärden.

Reinhold Dusella:
Haben Sie in der Diskussion über Sprache oder über einen Text zusammengefunden?

Iris ter Schiphorst:
Ja, als wir uns 1995 kennenlernten, haben wir von Anfang an sehr viel über Sprache geredet, aber auch sofort eigene Musiken ausgetauscht.

Helmut Oehring:
Es waren bei Iris die Melodien, die mir immer sehr nahe gingen; von der Farbe, von der Form und von der Verwendung der Texte. Denn ich hatte vorher mit Texten nicht soviel gearbeitet - außer in Wrong; und dann auch nur mit deutschen Texten. Das war bei Iris eben anders, auch überhaupt der Umgang und die Wichtigkeit von Text. Das hatte mich sehr angeregt. Ich hatte damals das D'Amato System, die Tanzoper, geschrieben und hatte Iris gefragt, ob ich einige ihrer Melodien und Texte verwenden darf. Da haben wir zum ersten Mal hören können, wie das zusammen klingt und ich fand das wunderbar. Ich hatte das früher in Form von Zitaten schon mit anderen Komponisten gemacht, daß heißt, wenn sie mir sehr nahe lagen. Wenn diese Musik etwas individuell Existentielles für mich hatte. Es hat was damit zu tun, daß man die Begeisterung teilt und nicht, daß man denkt, man kann das besser machen. Man lehnt sich nicht faul zurück, sondern man gibt sich alle Mühe, eine Komposition, die jemand hier schon der Welt vorgestellt hat, mit Neuem auszufüllen. Es hat auch eine Rolle gespielt, als ich das erste Mal Melodien von Iris benutzt habe. Das hat mit einem inneren Monolog zu tun, den ich als Komponist auf dem Papier weiterführe. Warum soll ich mir auf die Hand hauen und sagen "darfst du nicht tun"? - Und dann irgendwann kam Armin Köhler auf mich zu und hat mich gefragt, ob ich ein Stück für Donaueschingen komponieren möchte. Und da hab ich sofort Iris gefragt, ob sie nicht Lust hätte, daß wir versuchen, dieses Stück [= Polaroids, ein Melodram] zusammen zu schreiben.

Iris ter Schiphorst:
Ich wollte zuerst nicht. Ich hab gedacht, das kann eigentlich nicht hinhauen. Das ist zu kompliziert.

Helmut Oehring:
Ich hab dann im selben Moment Angst vor meiner eigenen Courage gehabt. Zwei Komponisten und dann auch noch Donaueschingen, wo man sich ja nicht unbedingt heimlich mal testen kann. Wir haben das vorher nicht ausprobiert bei irgendeinem kleineren Stück. Das Scheitern war sozusagen inbegriffen.

Reinhold Dusella:
Wie ist denn die Vorgehensweise bei diesem gemeinsamen Komponieren?

Iris ter Schiphorst:
Die Verfahrensweisen sind sehr unterschiedlich und bei jedem Stück anders.Bei Polaroids ist es eigentlich am spannendsten gewesen. Weil es das erste Stück war und weil wir überhaupt keine Ahnung hatten, ob es geht oder nicht. Wir haben einfach - jeder für sich - angefangen zu arbeiten.

Helmut Oehring:
Früher war es eher ein Greuel, daran zu denken, mir meine Noten von einem anderen Komponisten ändern zu lassen.

Iris ter Schiphorst:
Und bei "Polaroids" war es geradezu mystisch . Wir hatten uns auf die Besetzung geeinigt, in etwa die Länge ins Auge gefaßt, und uns über die mögliche, inhaltliche Thematik verständigt. Und dann ist jeder in sein Kämmerchen gegangen und hat angefangen zu schreiben. Nach zwei Wochen ungefähr haben wir uns getroffen. Jeder hatte sechs oder sieben Seiten geschrieben.

Helmut Oehring:
Zum Teil unfertig - also mit Lücken, wo wir dachten, daß das dann der andere machen kann oder frei bleibend oder wie auch immer...

Iris ter Schiphorst:
zum Teil auch komplett; und dann haben wir die einfach so ausgelegt und entschieden, die Seite kann dahin und die andere Seite kommt an den Schluß usw. Und das Verrückte war, daß da plötzlich ein Material stand, wo wir beide gesagt haben: das ist es!

Helmut Oehring:
... da haben wir kaum Angleichungen und Ausbesserungen vornehmen oder Scharniere herstellen müssen, daß das harmonisch einigermaßen funktionierte, da wo die Stimmen waren oder instrumentale Abläufe. Es waren sozusagen folgerichtige Verläufe, ohne vorhergehende Absprache.

Iris ter Schiphorst:
Das hat uns bei der Produktion bestärkt, einfach erst mal so weiter zu machen, bis wir dann das Gefühl hatten, wir haben jetzt so viel Material, um die nächste Phase wieder aufzunehmen zu können. In der Phase haben wir - wir hatten vorher auch nicht gedacht, daß es gehen würde - teilweise Blätter zerschnitten. Wir führten sozusagen im Montageverfahren Verläufe, die schon eine Ordnung hatten, mit anderen Verläufen zusammen. Aber nicht, um eine vorbesprochene Dramaturgie zu erreichen, sondern - und das war das Spannende - der Dramaturgie des Materials zu folgen.

Reinhold Dusella:
Ist es ein Spiel, das nach unausgesprochenen Regeln einfach funktioniert?

Iris ter Schiphorst:
Es ist kein Spiel und auch nicht der Spaß am Zufall oder so etwas ... eher das Staunen, daß sich Dinge trotzdem und erst recht gemeinsam ausdrücken lassen.

Helmut Oehring:
Ich hatte mir nie vorstellen können, daß man das mit einem anderen ... daß ich mit einem anderen Komponisten vom Fach Ideen teilen könnte: die Nähe der Gedanken, die Nähe der Arbeitsweise und dann auch das Vertrauen, das man ja schließlich haben muß, das in die Nähe sich Einlassen. - Und ich muß ehrlich sagen: Ich habe als Komponist nie eine Grenze ziehen oder einen Kompromiß machen müssen. Das wäre für mich unerträglich.

Reinhold Dusella:
Wie geht es für Sie beide weiter?

Helmut Oehring:
Ich finde den Ausblick, daß jeder von uns, für Anfang 2000 ein großes Orchesterwerk schreiben und daß wir in großer zeitlicher Nähe, Iris im Januar, ich im Ferbuar/März die Uraufführung im süddeutschen Raum haben sehr spannend.

(Das Gespräch wurde am 18. August 1998 in Berlin geführt.)

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SWR