Donaueschinger Musiktage 2000 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2000: "Itinerar (Relief oder die Buchstabenrevolte)"

Stand
Autor/in
Manos Tsangaris

Itinerar

Sie halten dieses Stück schon in Ihren Händen. Hochformat. Glänzend.
Oder liegt es vor Ihnen auf dem Tisch? Vielleicht haben Sie geblättert und sind hier gelandet. Es geht um Information, schön in der Reihe, eins nach dem anderen – in Formation – wie beim Militär, und das klappt. Alles klappt ineinander. Oder stürzt auf uns ein. Hier steht es, und Sie nehmen es Stück für Stück auf, von links nach rechts. Ihr Ort, Ihre Schneide berührt und trennt. Er springt zurück. Die Zeit läuft in umgekehrter Richtung. Das Ende schlägt wieder einmal in den Anfang. Der Raum, den Sie bilden, ist jener, durch den Sie sich bewegen. Was hören Sie, wenn Sie lesen. Nehmen wir uns die Zeit und lauschen?

Wenn Sie jetzt in einem Konzert absoluter Musik säßen, wäre der Aufführungsrahmen geklärt. Die Musiker treten auf, und das Publikum klatscht. Dann die Musik.
Wenn Sie jetzt eine Klanginstallation beträten, vorausgesetzt, sie wäre zu betreten, wäre der Rahmen geklärt. Sie treten ein, und niemand klatscht.
Wenn Sie jetzt am Radio säßen, könnten Sie den Sender wechseln.

Dieses Stück bezieht sich auf alle anderen. Es ist Schnittpunkt und Schneide in einem. Der Ort durch den Sie schneiden, ist jener, den Sie bilden. Und alles trifft ineinander. Wenn Sie möchten, können wir am Ende nochmal von vorne beginnen. Wenn Sie möchten, unterbrechen wir jetzt. Während wir voranschreiten, geben wir eine Wegbeschreibung:
Lesen Sie nur – mit den Augen!
Der Blinde, fast geheilt, sagt: "Ich sehe Menschen, denn Wesen wie Bäume sehe ich umhergehen." Es lohnt sich, die Hände erneut aufzulegen, damit wir scharf sehen.
Sehen und Hören gehören getrennt, damit wir sie zusammensehen.
Oder: "Sehet zu, was Ihr höret!"

Wir gehen den Weg und beschreiben ihn. Das allmorgendliche Erwachen hat Sie wieder einmal abgeholt und hierhin katapultiert. Sie müssen allein sein, wenn Sie diesem Stück folgen wollen. (Übrigens auch den anderen Stücken folgen sie bloß allein. Oder lassen Sie sich vertreten?)
Wir bieten Ihnen, wenn Sie möchten, für einen Moment Unterschlupf zwischen den Zeilen. Sie können sich die Zeilen aussuchen, zwischen denen Sie verweilen mögen. Oder wir gehen einfach weiter. In ein paar Jahren werden Sie womöglich diese Zeilen lesen und das Stück wieder auferstehen lassen. Von links nach rechts, unserer Konvention folgend. Vielleicht finden Sie es jetzt ganz anders vor. Es mischt sich mit der Erinnerung, es biegt sich unter ihren Augen. Die Erinnerung schmilzt in einem Punkt zusammen. Sie trennen diesen Punkt aus der Erinnerung und geben ihm einen Namen. Dann gehen Sie weiter. Nach dem Konzert ist vor dem Konzert. Der Ball ist rund. Das Spiel dauert länger als wir denken. Wenn wir John Cage und Sepp Herberger zusammennehmen, bemerken wir, dass wir uns von dem Stück, das jedesmal anders verläuft, ruhig überraschen lassen können.
Sie halten es schon in Ihren Händen: Hochformat, glänzend.

Stand
Autor/in
Manos Tsangaris