1. Questions for the unborn (Fragen für die Ungeborenen)
2. Speak, be silent (Sprich, sei still)
Wenn ich Musik schreibe – was ist es, das ich "anstrebe" oder "beabsichtige"? Oft scheint es mir, dass Musik ihren eigenen Kopf hat. Während ich damit beginne, ein Werk in bestimmte Richtungen zu kanalisieren, beginnt die Musik im Laufe des Schreibens, ihre eigenen Forderungen und Fragen zu entwickeln, die einen in unvorhergesehene Bereiche treiben.
Kalligrafie (eine dynamisch-kontemplative Tätigkeit), Archäologie (das Studium der Ablagerungen der Zeit) und der rituelle und symbolische Gebrauch von Zahlen in der chinesischen Kultur: das sind einige der Bereiche, aus denen ich Anregungen ziehe. Die Klangwelt meiner Musik richtet sich oft nach Beobachtungen des "inneren Lebens" der Klänge, der charakteristischen Aspekte der physikalischen Bedingungen von Instumenten und der erotisch-taktilen Beziehung, die Musiker mit ihren Instrumenten verbindet.
Doch letztlich scheint mir, dass Musik selbst nicht das primäre "Material" meiner Arbeit ist. Wichtiger ist für mich, Mittel zu finden, die dem Hörer eine Art des Hörens ermöglichen, welche die Aufmerksamkeit erhöht. Die Musik spielt ihre Energien in Zeit und Raum aus, und gleichzeitig entsteht eine parallele Welt von "Nicht-Musik". Man könnte dies eine Art von "Stille" nennen, eine paradoxe Gegenwart, auf die die Musik verweist.
"The Tree of Life" ist ein Tribut des Gedenkens an Franco Donatoni (1927-2000); die Komposition zitiert drei stumme Takte aus seiner vorletzten Komposition Prom. Diese Lücke von sechs Sekunden Dauer erscheint in der Partitur von Prom dort, wo Donatoni zu krank wurde, um weiterzuschreiben. Er schuf diese Trennungstakte und begann dann, den letzten Teil des Werks seinen Assistenten zu diktieren.
Speak, be silent
Just remember, when you’re in
union,
You don’t have to fear
that you’ll be drained.
The command comes to Speak
and you feel the ocean
moving through you.
Then comes, be silent
as when the rain stops,
and the trees in the orchard,
begin to draw water
up into themselves.
(Jelaludin Rumi (1207-1273), aus Mathnawi, Übersetzung ins Englische: Coleman Barks)
Sprich, sei still
Erinnere dich, wenn du in Harmonie
bist,
brauchst du nicht zu fürchten
dass du ausgetrocknet werden wirst.
Die Aufforderung kommt: Sprich,
und du fühlst den Ozean
sich durch dich hindurchbewegen.
Dann kommt: sei still,
wie wenn der Regen aufhört,
und die Bäume im Obstgarten
beginnen, Wasser
in sich hineinzuziehen.
"Zu sprechen" und "still zu sein" lassen sich als Übergangspositionen in einer zyklischen Bewegung zwischen Verlust und Gewinn verstehen – beide offen in unbegrenzte Räume hinein, in die man Fragen an die Ungeborenen stellen könnte.
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- Donaueschinger Musiktage 2001
- Themen in diesem Beitrag
- Liza Lim, The Tree of Life für Orchester
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