Donaueschinger Musiktage 2006 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2006: "Anamorfosis"

Stand
Autor/in
Alberto Posadas
Übersetzung
Till Knipper (aus dem Spanischen)

In meinem Schaffen überwiegen jene Werke, deren musikalische Konstruktionssysteme nach Vorbildern der Natur bestimmt werden, obwohl es auch eine ganze Reihe Werke gibt, denen menschliche Schöpfungen (Kunstwerke) Modell gestanden haben, insbesondere architektonische Räume wie die ägyptischen Pyramiden. An den Naturmodellen fasziniert mich die generative Fähigkeit, die innere Logik und Komplexität vereint mit Notwendigkeit aufzeigt. An menschlichen Schöpfungen interessieren mich ihre Künstlichkeit und wie sie das Problem der Verteilung des Materials lösen (räumlich in Bezug auf die Architektur). Auf den kompositorischen Prozess können diese Modelle durch eine mathematische Formulierung übertragen werden. Wie Galileo schon sagte: "Das Universum ist in der Sprache der Mathematik geschrieben." Und diese Sprache dient wunderbar als Verbindung zur Musik, weil beide, neben einer sehr abstrakten Idiosynkrasie, formalisiert werden können (auch wenn die Mathematik viel abstrakter ist).

Anamorfosis müsste zur zweiten Werkgruppe gezählt werden, welche sich auf künstlerische Produkte bezieht; in diesem Fall handelt es sich allerdings nicht um Architektur, sondern um eine bestimmte Maltechnik. Die Anamorphose ("anamorfosis") ist eine Technik der verzerrten Perspektive, die das Erkennen der dargestellten Figur aus einer üblichen (frontalen) Perspektive erschwert. Statt der üblichen Perspektive muss die Figur aus einem bestimmten Winkel betrachtet werden, damit man genau erkennt, was auf dem Bild zu sehen ist. Ich entdeckte diese Technik als Kind bei einem Besuch im Museum der Kathedrale von Palencia, wo es ein derartiges, Lucas Cranach zugeschriebenes Gemälde von Karl V. gibt, das mich sehr beeindruckte. Mehrmals versuchte ich, diese Idee der Perspektivverzerrung auf einem unmittelbar grafischen Weg auf die Komposition zu übertragen – allerdings ohne das erwünschte Resultat zu erreichen. Schließlich veränderte ich für das neue Werk den Ansatz in ein arithmetisches Verfahren, welches mir nun erlaubte, den Diskurs nach meinen Vorstellungen zu kontrollieren.

Die logarithmischen Beziehungen des Klangspektrums werden verschiedenen Umwandlungen unterworfen, wodurch davon abgeleitete, akkordähnliche Strukturen entstehen. Sie stehen in enger Beziehung zueinander und stellen gleichzeitig vielgestaltige Verzerrungen dar. Diese akkordähnlichen Strukturen bestimmen nicht nur die Harmonik, sondern auch die Verteilung über die Register, das innere Verhalten bestimmter Texturen (zum Beispiel jene Schichten mit Multiphonic-Klängen) etc.
Gleichzeitig kommen für die Verteilung des Materials in den verschiedenen Abschnitten Systeme bedingter Kombinatorik zum Einsatz. Aus den logarithmischen Beziehungen wurden Proportionen abgeleitet, welche die zeitliche Verteilung der Klangelemente regulieren.

Die anamorphotische Technik erzeugt im Bereich der akustischen Wahrnehmung kein derart deutliches Resultat, wie es in der visuellen Wahrnehmung entstehen kann, insbesondere wenn es sich um sehr komplexe Musik handelt. Dennoch eröffnet sich durch diese Technik eine Möglichkeit, den Klangraum so ähnlich zu bearbeiten, wie es bei topologischen Transformationen geschieht. Und das ist es, was beim anamorphotischen Verzerren eines Bildes wirklich passiert.

Stand
Autor/in
Alberto Posadas
Übersetzung
Till Knipper (aus dem Spanischen)