Donaueschinger Musiktage 2004 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2004: "Skeleton in the Museum"

Stand
Autor/in
Jon Rose, aus dem Englischen: Hans Wolf

Jon Rose

Der Titel bezieht sich auf den australischen Komponisten Percy Grainger und dessen Wunsch, sein Skelett in seinem auf dem Gelände der Universität Melbourne gelegenen Museum auszustellen. Nach seinem Tod im Jahre 1961 weigerten sich die Stadtoberen, diesem Wunsch zu entsprechen – mit der Begründung, dergleichen verstoße gegen das gesunde Volksempfinden.

Percy Aldridge Grainger wurde 1882 in Melbourne, Australien, geboren und starb 1961 in White Plains, New York. Als virtuoser Pianist und Komponist eingängiger Klavierstücke wie Country Gardens und Molly on the Shore stand er zu Lebzeiten bei Musikliebhabern in hohem Ansehen; heute indessen bewundert man ihn eher als Neuerer und eigenwilliges Genie.

Er antizipierte viele musikalische Konzeptionen des 20. Jahrhunderts. The Warriors etwa, ein 1913 von Grainger komponiertes Stück für Orchester und drei Klaviere, nimmt mit der Verwendung einer hinter dem Podium aufgestellten Blechbläsergruppe, mit seiner rhythmischen Komplexität, den Unmengen speziell gestimmter Schlaginstrumente, dem Einsatz von zwei Dirigenten, den gelegentlichen Ausbrüchen schriller Dissonanzen in einer vorwiegend tonal angelegten Komposition ganz offensichtlich Charles Ives vorweg.

Random Round, 1912 niedergeschrieben, antizipiert die aleatorische, durch den gelenkten Zufall definierte Musik von John Cage und Karlheinz Stockhausen (in diesem Stück steht es den Musikern frei, wann sie mit ihrem Spiel beginnen; für improvisierende Musiker nicht unbedingt etwas Neues, galt diese Idee innerhalb der komponierten Musik damals als überaus radikal).

Seine ganze Laufbahn hindurch war Grainger bestrebt, seine Konzeption der "Free music" zu verwirklichen – einer Tonsprache, die von den tonalen wie auch nicht-tonalen Strukturen abendländischer Musik befreit sein sollte. Gegen Ende seines Lebens baute er (gemeinsam mit Burnett Cross) aus industriellem Abfall und Schrott eine ganze Reihe von Free-music-Instrumenten, mit denen sich "nichtharmonische" und "gleitende" Töne erzeugen ließen. Mit ametrischer Musik experimentierte er erstmals bereits 1899 in seiner Komposition The Song of Solomon, in der die Taktbezeichnungen mit jedem Takt wechseln. Er selbst bezeichnete dies als eine Musik, bei der es keine herkömmliche Taktdauer gibt, sondern wo die Rhythmen vollkommen frei sind und keinen Zusammenhang zwischen den einzelnen polyphonen Abschnitten herstellen.

Wie Béla Bartók leistete Grainger Pionierarbeit, was die Aufzeichnung (auf Wachswalzen), Transkription, Bearbeitung und Verwendung von Volksmusik betrifft – namentlich der traditionellen Musik Großbritanniens, Skandinaviens, Neuseelands, Indonesiens, Polynesiens, Japans und Chinas. Als ein Liebhaber des mechanischen Klaviers schuf Grainger pianistisch "unspielbare" Stücke, noch ehe sich Colon Nancarrow Kompositionen dieser Art widmete.

Auch für das "Objet trouvé", das gefundene Objekt, wirkte Grainger bahnbrechend. So entstand beispielsweise im Jahre 1933 aus einem klemmenden, einen Dauerton erzeugenden C auf seinem Harmonium, das Stück The Immovable Do.

Doch vor allem seinem extremen Lebensstil ist es zu verdanken, dass man Grainger heute noch kennt. Noch zu Lebzeiten ließ er sich ein (an eine öffentliche Toilette erinnerndes) Museum errichten, wo hunderte seiner Briefe und Artefakte lagern. Häufig in einer ganz eigenen Sprache (einem zurechtgestutzten Angelsächsisch bzw. Englisch ohne jegliche Latinismen) geschrieben, dokumentieren die Briefe seine Leidenschaft für Körperkultur (er war nicht nur ein Sportfanatiker, er lief oft auch von Konzert zu Konzert); er hatte ein Faible für Flagellation und Sadomasochismus (über 70 Peitschen stellte er eigenhändig her); er entwarf seine (aus Frottee gefertigte) Kleidung selbst, kreierte 1907 sogar einen Sport-BH für seine damalige Freundin; er schrieb unverzeihliche und oft widersprüchliche rassistische Bigotterien, vor allem gegen Juden (bewunderte aber zugleich viele jüdische Musiker); er war besessen von Inzest-Fantasien (zum Glück hatte er keine Kinder), hatte eine geradezu manische Schwäche für alte Seefahrernationen und hegte eine lebenslange Liebe zu seiner Mutter (sie hatte Syphilis und beging 1922 Selbstmord, indem sie sich von einem New Yorker Wolkenkratzer stürzte). Für jeden Psychoanalytiker ein Traum – oder ein Albtraum. Vegetarier, Antialkoholiker, Nichtraucher, überzeugter Atheist, heiratete er 1928 – im Rahmen eines Konzerts in der Hollywood Bowl vor 15.000 Zuhörern – seine "nordische Prinzessin" Ella Viola Ström.

Graingers Denken stellt, wie die klassische Quantentheorie, ein Wechselspiel der Widersprüche dar – ein Wechselspiel, in dem Schein und Sein kindlich und zugleich monströs sein können. Seine Lieblingskomponisten? Bach, Duke Ellington und Delius.

Das Blisters Ensemble ist eine australische Musikgruppe, deren Verwendung interaktiver, selbstgefertigter Elektronikinstrumente bei Liveauftritten als bahnbrechend gelten darf; die Musiker greifen in vielerlei Hinsicht Graingers fantasievolle Ideen auf und entwickeln sie weiter. Das Ensemble setzt sich zusammen aus Jon Rose, Rainer Linz, Tom Fryer, Joanne Cannon und Stuart Favilla.

Im April 2003 durchforschten sie gemeinsam die Archive des Grainger-Museums. Viele der in dieser Produktion verwendeten, von Grainger in "Heimarbeit" erstellten Aufnahmen, sind hier erstmals zu hören.

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Donaueschinger Musiktage 2004
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Jon Rose, Skeleton in the Museum
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Jon Rose, aus dem Englischen: Hans Wolf