Donaueschinger Musiktage 2002 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2002: "Mundrundum"

Stand
Autor/in
Jaap Blonk

In meiner Praxis als Stimm-Interpret und Lautdichter/Komponist kann man in groben Zügen drei Phasen unterscheiden.

Der Anfang, ab 1979, war die Herstellung und Aufführung meiner Versionen von vorwiegend nur als Text überlieferten Lautgedichten unterschiedlicher Autoren aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, von denen ich hier Kurt Schwitters, Velimir Chlebnikow und Antonin Artaud besonders nennen möchte.

1984 begann die zweite Phase, die der Improvisation. Meistens im Zusammenspiel mit improvisierenden Instrumentalisten entdeckte ich eine Unzahl von Mund-Klängen, die fast alle nicht mit den Buchstaben der mir bekannten Sprachen notierbar waren. Ich spreche hier von "Mund-Klängen" statt von "Stimm-Klängen", weil in vielen Fällen die Stimmbänder überhaupt nicht zum Klingen kommen und daher die Stimme im engeren Sinne nicht die Quelle des Klanges ist.

In dieser Periode erkundete ich vor allem die Extreme der für mich realisierbaren Klangmöglichkeiten und übte das schnelle und flexible Schalten und Variieren von allerhand Geräuschen, damit ich sie adäquat in jedem musikalischen Kontext einsetzen konnteDurch das Bedürfnis einer Systematik beim Komponieren für meine Stimme kam ich ab 1989 in eine dritte Phase. Ich brauchte Notationsformen und lernte das Internationale Phonetische Alphabet (IPA), mit dem in der Linguistik die Aussprachen aller Sprachen der Welt notiert werden. Das IPA funktioniert durch Anweisungen anhand der "Mechanik des Mundes": Es schreibt vor, wie z.B. die Zunge, die Lippen zu halten sind, um einen bestimmten Laut einer Sprache (auch einer, die man nicht beherrscht!) hervorzubringen. Das war für mich nun ein fruchtbares Prinzip: Ich fing an, alle möglichen Kombinationen von Zungen- und Lippenpositionen und -Aktionen, mit verschiedenem Luftdruck und mit oder ohne Anteil der Stimmbänder, zu erforschen. Dabei war der Klang also nicht mehr primär, sondern sekundär: erst kam die mechanische Aktion, dann erst, und manchmal in ganz unerwarteter Form, das klangliche Resultat. Stellen Sie sich hier keine trockene und nur systematische Arbeit vor: Es ist eher ein Spiel von fast kindlicher Freude. Tatsächlich stellte sich heraus, dass ein Teil der Geräusche, die man so entdeckt, diejenigen sind, die uns allen als Kindern Spaß machten, die uns aber aberzogen wurden.

Beim Lernen des IPA wurde auch von Anfang an klar, dass viele Klänge die ich schon in meinen Improvisationen benutzte oder neu erfand, in diesem Alphabet nicht vertreten, also offenbar "außersprachlich" waren, und ich fing an, das IPA zu einem eigenen Notationssystem zu erweitern. Das ist auch jetzt noch eine schier endlose Arbeit, die ich wohl nie abschließen werde.

In "MUNDRUNDUM" verwende ich keine andere Klangquelle als meinen Mund. Doch versuche ich, den Raum mit sehr verschiedenen Lauten zu füllen, insbesondere in dem Sinne, dass gleichzeitig an verschiedenen Stellen im Raum und aus verschiedenen Richtungen andere Klänge und Klangqualitäten zu hören sind. Dazu arbeite ich mit Quadrophonie und sechs Mikrophonen. Es klingt, vom Saal aus gesehen, das vom ersten Mikrophon eingefangene Signal rechts vorne, das des zweiten von links vorne, das dritte und sechste von rechts hinten, das vierte und fünfte von links hinten. Vom Interpreten aus gesehen ist die Anordnung der Mikrophone von links nach rechts: 5, 3, 1, 2, 4 und 6.

In meinem Stück Labior (1996) für Stimme solo habe ich bereits manche Aspekte und Techniken der Solo-Erzeugung von Stereo-Mundklängen erkundet. Dazu gehören z.B.:

  • die Resonanz der Lippen in den beiden Mundecken mit unterschiedlicher Frequenz, sowohl ausatmend als injektiv, mit oder ohne Einsetzen der Hände zur Modulierung des Klanges;
  • Kopfschütteln mit verschiedenen Geschwindigkeiten, so dass Ort sowie Charakter des Klanges sich ständig ändern;
  • Bewegung der Zunge, die ein Austreten der Töne an variablen Stellen des Mundes zur Folge hat;
  • durch Pressluft in den beiden Backen produzierte Geräusche, die eine sehr starke Trennung im Stereobild möglich machen.

In "MUNDRUNDUM" wird die Klangwelt von Labior in verschiedenen Hinsichten erweitert:

  • Zuerst kann hier jede der vier Seiten des Raumes der "verbreiterte Mund" sein (wenn es das Mikrophon fünf und sechs nicht gäbe, wäre dies für diese Seite nicht möglich);
  • Ich habe daran gearbeitet, verschiedene Techniken der Lippenklänge auch dreistimmig statt nur zweistimmig verwenden zu können (linke und rechte Mundecke und Mitte des Mundes), so dass der Einsatz von mehr als zwei Klangkanälen auch deswegen Sinn hat;
  • Es kommt ein sehr vielseitiges, wenn auch noch oft widerspenstiges Instrument ins Spiel, das ich den "Backen-Synthesizer" nenne. Mit den Fingern beider Hände auf den Wangen wird das Durchqueren der Luft dort beeinflusst, woraus eine breite Palette komplexer Klangmöglichkeiten resultiert;
  • Es werden mehrere obertonreiche Stimmklänge im Stück vorkommen. Die Obertöne haben Wellenlängen, die den Unterschieden in der Entfernung vom Interpreten zu den verschiedenen Mikrophonen vergleichbar sind, so dass Phasenunterschiede hörbar werden. Hier liegt der zweite Zweck der Mikrophone 5 und 6: Die Verstärkung bzw. das Löschen von Tönen durch Phasenunterschiede wird nur dann deutlich, wenn zwei Töne mit verschiedener Phase von einem Punkt aus, also hier vom selben Lautsprecher wiedergegeben werden (eine Ausnahme sind die sehr tiefen Töne, aber darum geht es hier ja nicht). Und das stimmt in diesem Falle: das Signal der Mikrophone 4 und 5 kommt aus dem Lautsprecher links hinten, das Signal der Mikrophone 3 und 6 aus dem, der rechts hinten steht.
  • Das Klangbild wird stellenweise beeinflusst durch verschiedene Arten der Bewegung der Hände, die bestimmte Mikrophone zum Teil oder fast ganz abdecken. Auch sind diese Bewegungen manchmal sehr schnell, so dass eine Art akustisch erzeugter Chorus-Effekt in Erscheinung tritt.
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Themen in diesem Beitrag
Jaap Blonk, Mundrundum
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