Der Titel Terra Incognita bezieht sich ironisch auf jene Metapher, die nach Hans Blumenberg bevorzugt in der frühen Phase der Neuzeit verwendet wurde, als Ausdruck einer attentio animi, ein in allem Neuen nur die Kaps und Vorinseln von Kontinenten sehendes Gespanntsein, in der sich eine charakteristische Intentionalität des Bewusstseins der frühen Neuzeit ausdrückt.
Ironie und Fluidität
Ironie waltet in "Terra incognita" insofern, als die ZuhörerInnen aufgefordert werden, direkt in die Entwicklung der Gestalten und Formen einzuwirken, sie solcherart zu "erforschen", obwohl das Werk eben aufgrund dieser Eingriffe bei jeder Aufführung eine andere Gestalt annehmen wird, sich also einer – im traditionellen Sinne – analytischen Erforschung entzieht.
Der Kern der Konzeption erstreckt sich dabei weniger auf Gestaltsetzungen selbst, sondern auf Gestaltbildungsprozesse, die zu je sehr unterschiedlichen Resultaten führen werden. Dabei sind dem Publikum durchaus diverse Instrumentarien in die Hand gegeben, um die fluiden Räume dieser "Terra incognita" zu erforschen und erforschend zu gestalten: In drei Räumen werden zudem verschiedene Perspektiven auf das Werk geboten.
Im ersten, dem Hauptraum, befindet sich eine "Konzertlounge" mit dem Podium der Live-SolistInnen (sechs Instrumente, eine Frauenstimme), dem "Pool". Über drei interaktive Interfaces (Trigger-Buttons) können vom Publikum Impulse in ein Netzwerk geschickt werden, das die Partitur der SpielerInnen direkt während der Aufführung erzeugt: Diese spielen nicht von Noten, sondern direkt von Bildschirmen, auf die diese Echtzeit-Partitur projiziert wird.
Realtime-Score
"Terra Incognita" markiert den Abschluss einer zehnjährigen Arbeitsphase, in der ich – beginnend mit Chambres séparées (Trio Accanto, ZKM, Karlsruhe 1994/95) und KOMA (Arditti-Quartett, IRCAM, Centre Pompidou, Paris 1995/96) – die Möglichkeiten des Einflusses interaktiver Aktionen auf den Formbildungsprozess selbst live, das heißt direkt während einer Aufführung eines Werkes, erforscht habe.
Im Zentrum stand dabei das Konzept des "Realtime-Scores", einer so genannten Echtzeit-Partitur, die einerseits aus einem komplexen Relationensystem vom Computer generiert wird – in den meisten Fällen handelt es sich um Adaptionen von Modellen dynamischer Systeme, die aufgrund ihrer Komplexität auf interaktive Signale "von außen" in zum Teil sehr verschiedener Weise, je nach dem inneren Zustand des Systems, reagieren -, und die andererseits anstelle eines Noten-Papiers direkt auf Computerbildschirme für die MusikerInnen projiziert werden.
Diese Partitur-Projektionen können natürlich je Aufführung, abhängig von den interaktiven Vorgängen und den damit verbundenen inneren Reaktionen der Computerprogramme, stark voneinander abweichen und müssen von den SpielerInnen möglichst direkt gelesen und gespielt werden. Dies bedingt eine neue Form der Notation, zumeist eine Mischung aus grafischen und formalisierten Elementen, die mit dem Phänomen Zeit – etwa als Rhythmus oder Reaktionszeit – auf völlig neue Weise umgehen kann. Zugleich aber ist diese neue Form der Notation ähnlich verbindlich für die InterpretInnen wie traditionelle, partiturgebundene Notation und darf keineswegs mit Improvisation verwechselt werden.
Mikrofiguren / "Evol"
In "Terra Incognita" werden hauptsächlich Mikrofiguren im Realtime-Score projiziert, winzige, in den Halbtonbereich eingeschriebene Gestalten, wie sie als wesentlicher Teil meiner Musiksprache seit zitternd (ein nucleus) für Violine solo (1989) immer wieder auftauchen.
Die jeweilige individuelle Gestalt einer solchen Mikrogestalt wird in "Terra Incognita" durch einen "Gen"-Satz von insgesamt 27 "Genen" festgelegt, wobei jedes Gen aus verschiedenen (zumeist vier oder mehr) Modellen bestehen kann. Die Auswahl der Modelle an den jeweiligen Gen-Positionen erfolgt anfänglich zufällig, mit jedem "Trigger" auf einen der "Buttons" werden die Modelle der gerade gespielten Figur aber markiert, und mit einer leichten Gewichtung gegenüber den anderen Modellen versehen. Wiederum metaphorisch gesprochen löst jeder "Trigger" einen Selektionsprozess aus, der die damit markierten Modelle mit einem "Überlebensvorteil" gegenüber den anderen versieht.
Sechsmal setzt so im Laufe einer Aufführung des Stückes eine Art "Evolutionsprozess" ein, der sich je nach abgegebenen "Triggern" völlig verschieden entwickeln kann. Jede dieser "Evol" genannten Phasen des Stückes mündet nach einiger Zeit in einen Abschnitt ein, in dem auf den Bildschirmen auch vornotierte, "makroskopische" Notenfragmente erscheinen.
Simulation
Selbst wenn in zwei Aufführungen zum selben Zeitpunkt das gleiche Interaktions-Signal getriggert wird (mit dem Trigger-Button vom Publikum, wie in Terra Incognita, oder wie in anderen Stücken durch akustische oder mechanische Signale der MusikerInnen), so kann doch die Reaktion des Computers völlig verschieden ausfallen: Aufgrund vorheriger, abweichender Signale befindet sich das die Partitur generierende dynamische System in einem anderen Zustand bzw. hat es sich, aufgrund minimaler Abweichungen der Parameter des Ausgangszustandes, in eine völlig andere Richtung entwickelt.
Diese komplexe Flexibilität dynamischer Systeme bewirkt, dass jede Aufführung zumindest in einigen Aspekten von allen anderen abweicht, dass jede Aufführung quasi eine mögliche Version von vielen ist, ein Simulationsdurchlauf neben vielen anderen. Die einzelne, individuelle Werk-Realisierung wird zur Simulation der Potentiale des Werk-Kernes (des "Nucleus"). Um die Unterschiede der Simulationsversionen wahrnehmen zu können, wären mehrere Aufführungen desselben Stückes in einem Konzert hilfreich oder der Besuch mehrerer Konzerte hintereinander oder aber die Idee, mehrere Versionen in einem Durchlauf selbst zu realisieren: In Terra Incognita geschieht letzteres in den sechs "Evol"-Partien.
Makroskopische Trigger-Folgen
Allerdings besitzt jeder "Evol"-Teil, neben den überall stattfindenden Selektionsvorgängen der Mikrogestalten, eine je andere Spezifik der Makroorganisation, auf die die Trigger einwirken, und die wohl am ehesten auch direkt wahrgenommen werden kann (während die Evolutionen der Mikrofiguren sich vermutlich erst allmählich erkennen lassen).
Die Makrotextur der einzelnen Teile wird durch die Trigger wesentlich geformt: Ein Trigger kann etwas auslösen, einen Ablauf stoppen oder einem stattfindenden Vorgang wesentliche Modifikationen aufprägen. Welche das im Einzelnen sind, soll hier nicht verraten werden. Nur soviel, dass die sechs Teile von Terra Incognita als drei Paare mit je polarer Charakteristik angelegt sind.
Zoom
Ein wesentliches Moment der "Erforschung" der Terra Incognita bildet der Vorgang des "Zoomens", des (vergrößernden) Hineintauchens in einen Klangverlauf. Dies geschieht auf mehrfache Weise und an mehreren Orten. Jede der sechs Evol-Partien mündet in einen so genannten Zoom-Teil ein, in dem anstelle der Mikrofiguren teilweise vornotierte Partitur-Elemente ("Score-files") auf die Bildschirme, – allerdings auch wieder durch Publikumstrigger beeinflusst und modifiziert – projiziert werden.
Verschiedene Zoom-Aspekte werden dabei verwendet: feldartige Ausbreitung von winzigsten Mikrogeräuschen, eine Klangballung, in der gleichsam die physikalische "Substanz" eines Tones ins Riesenhafte vergrößert wird, die instrumentale Transkription der Sonogramm-Analyse eines winzigen Geräuschvorganges ("Vom Gehen übers Eis", das leise Knacksen im Untergrund...), lang gehaltene, gleichsam "gefrorene" zweitönige Intervalle, deren innere Pulsationen synchron oder asynchron ablaufen, die Projektion der Mikrofiguren in Makroakkorde und "Melodien" bzw. in ein makroskopisches, den gesamten Klangraum des Ensembles umschreibendes Glissando, dem allerdings wiederum kleinere und mikroskopische "Aufrauungen" einprojiziert werden.
Die live gespielten Mikrofiguren werden in jedem der Evol-Abschnitte akustisch aufgezeichnet und ab bestimmten Punkten in zunehmender, bis zum Hundertfachen gehender Dehnung, über die rückwärtigen Lautsprecher wieder abgespielt. So erzeugen die Mikrofiguren ihrerseits sich ständig vergrößernde akustische "Schatten", einen Makroklangraum, der zunehmend die live gespielten Klänge umhüllt bzw. eine andere Hör-Perspektive schafft, wenn man, wie in dieser Aufführung geplant, verschiedene Positionen im Raum einnimmt.
Im zweiten Raum, der "Klimakammer", werden alle drei bis fünf Minuten kurze Ausschnitte (drei bis 13 Sekunden) asynchron aus dem bis dahin live gespielten Aufführungsmaterial herausgeschnitten und eingespielt, wobei sie ständig wiederholt ("geloopt") werden, aber durch Eingriffe über einen Joystick vom Publikum während dieser Wiederholungen live verändert werden können: Die Veränderungen werden wieder in die Wiederholungen aufgenommen, solcherart zu einer iterativen Transformation des Ausgangsmaterials führend – ein Zeitfenster wird aus der Aufführung herausgeschnitten und nun seinerseits in die Tiefe verfolgt (ein seitliches Fenster also, das gleichsam vertikal zum "Zeitstrom" der Aufführung steht, ein klanglicher Zoom also in eine andere zeitliche Richtung als in der Konzertlounge, dem Hauptraum, wo der Klang entlang dem Zeitstrom der Aufführung gezoomt wird).
Diese "Klima-Kammer" ist auch noch einige Zeit nach Ende einer Aufführung "geöffnet", wobei auf die Aufnahme der stattgefundenen Aufführung zurückgegriffen wird. Die iterativen Transformationen umfassen einerseits Reduktionen (spektrale und zeitliche Filter), andererseits Vervielfältigungen des Materials (spektrale und zeitliche Versetzungen), wodurch es zu Ausdörrungen, Desertifikationen des Klanges, aber auch zu dschungelartigen Wucherungen kommen kann – das "Klima" liegt in den Händen, die den Steuerknüppel bedienen.
In einem dritten Raum befindet sich eine Sprach-"Stele": In einem anderen Zoom-Vorgang sind darin die 93 Fragmente, die ich aus den insgesamt 1151 Fragmenten des Allgemeinen Brouillons von Novalis als textliche Grundlage der Terra Incognita ausgewählt habe und die im ersten Hauptraum nur in extremer Fragmentierung und beinahe unhörbar von der Sängerin gewispert, gehaucht und geächzt werden, als vor-aufgenommenes "Hörstück" enthalten, zu dem allerdings Live-Aufnahmen aus dem ersten Raum gemischt werden. In diesem dritten Raum findet Interaktion nur insofern statt, als durch Annäherung bzw. Entfernung zu der "Stele" – und damit verbundene stärkere oder schwächere Einbeziehung des umgebenden Raumes in den Hörvorgang – die Textwahrnehmung sich verändert.
Die beiden Lautsprecher, oben und unten in der Säule angebracht, sind genau aufeinander ausgerichtet, was zu teilweise unkontrollierbaren stehenden Wellen bzw. Wellenauslöschungen führen kann. Eigentlich müsste man den Kopf in das Innere der Stele stecken, mit einem Ohr oben und einem unten, um, wie in einem riesigen Kopfhörer, stereo zu hören. Doch wer wagt es schon, den Schleier der Isis-Statue zu lüften? So versucht man von außen zu verstehen, was da so alles "verkündet" wird.
Novalis, als Experimentator des Denkens und Visionär moderner Systemtheorien, dient als Navigator eines freien, assoziativen Driftens in allen Zonen des Bewusstseins und der Wahrnehmung: Unser Geist ist ein Verbindungsglied des völlig Ungleichen. [1048]
Wer soll diesen Text bloß lesen?
Bliebe noch die "Terra Cognita"
"Terra Incognita" ist der dritte Teil der Hyper-Oper Les Voy[ag]eurs.
- Festivaljahrgänge
- Donaueschinger Musiktage 2004
- Themen in diesem Beitrag
- Gerhard E. Winkler, Terra Incognita. Konzert-Installation für Ensemble, Frauenstimme, Echtzeit-Partituren, Computer, Videoprojektionen, interaktive Interfaces, Publikum, Räume und live-elektronische Klangformung
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