Donaueschinger Musiktage 2012 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2012: "Der "Weg der Verzweiflung“ (Hegel) ist der chromatische"

Stand
Autor/in
Johannes Kreidler

Eigentlich müsste nicht nur mein Name als Autor dranstehen, denn das meiste habe ich vom Computer komponieren lassen (Zufallsgeneratoren kann man Subjektivität zugestehen); ich habe nur geeignete Resultate ausgewählt. Selber wäre ich auf sie nicht gekommen. Und dann sind da haufenweise Fremd-Samples aus Audio- und Videoarchiven – Musik mit Musik; ich wollte mitunter durchschnittliche oder sogar schlechte Musiken haben, die daher als Medium taugen.
Man muss "Material" als ungenügend empfinden, sonst hätte man doch keinen Anlass, daraus etwas zu machen. Das ist die Definition von "Material".

"Dass es noch einmal Eigentum an ‚Ideen' und den Versuch geben würde, dieses Eigentum juristisch zu schützen, das hätte sich Plato nicht träumen lassen."
(Günther Anders)

Die Samples sind ohnehin nur die Oberfläche; das viel größere Sampling ist das der gesellschaftlichen Kräfte. Der einzelne Komponist wäre viel zu schwach, um Kunst zu schaffen; er ist immer auf externe Energien angewiesen, auf die Eigendynamiken von Widersprüchen, die latent und noch diffus umherschwirren, von denen im Werk etwas erfasst und isoliert wird.

Hauptthema des Stückes sind Tonhöhenverläufe nach oben und nach unten (oder in Richtung scharf und dumpf, wie die alten Griechen sagten), die emotionalen Wirkungen, die diese Verläufe fast zwingend haben, selbst wenn sie völlig technisch konstruiert sind, oder gerade dann. Ich habe den Computer davon viele erstellen lassen, sozusagen mathematische Traurigkeiten und algorithmische Emphasen. Emotionsgehörbildung. Sinustonexpressionismus.
Es gibt bei Bach und Vivaldi gegen Ende größerer Abschnitte manchmal pure Tonleitern als Melodien, und sie haben die reinste Wirkung: Die Struktur spricht.

Lachenmann-Remix, jetzt mal ernsthaft. Und warum wird heute so viel Xenakis gespielt? Weil Xenakis alltäglich bei Google wiederkehrt. Eine Google-Suche ist strukturell von Xenakis’ Musik kaum unterscheidbar. Man spricht ja auch von Software-Architektur.

Das bedeutendste Requiem des 20. Jahrhunderts stammt nicht von Britten oder Ligeti, sondern hat Max Mathews komponiert. Es erklingt in Stanley Kubricks Film "2001", als der sterbende Computer anfängt zu singen.

25 Posaunen, 108 Klaviere, kein Problem. Wenn ich 30 Gitarren brauche, nehme ich sie mir: Ich nehme sie auf, als Audio und Video.

"Der Weg der Verzweiflung", das klingt pathetisch, aber Hegel meint damit in der Vorrede zur "Phänomenologie des Geistes", dass durch den Zweifel hindurchgegangen wird, man ein Mal komplett ver-zweifelt. Hegels Logik ist zutiefst emotional. Diese Verquickung halte ich nicht nur für vorbildlich, sondern auch für ästhetisch.

Split Screen Studies

Eine technische Schaltung kann den Charakter eines Kunstkonzepts haben oder sie fordert mich dazu heraus, ihr ästhetisches Potenzial zu ergründen: ein Keyboard, bei dem ein Ton erst erklingt, wenn die Taste losgelassen wird, ein 3D-Sensor, der alltägliche Bewegungen in Geigenmusik transformiert, Schönbergs "Pierrot Lunaire" von einem Autonavigationsgerät gesprochen, usw. Wichtig ist mir dabei, die Technik funktional für etwas Weiteres einzusetzen, im Sinne der "gehaltsästhetischen Wende"
(Harry Lehmann).

Mit dem Split-Screen-Verfahren experimentieren Regisseure und Experimentalfilmer schon lange: Abel Gances "Napoléon" (1928) ist ein Spielfilm auf drei Leinwänden, Alfred Hitchcock inszeniert mit dem "Fenster zum Hof" (1954) gleichzeitig ablaufende Szenen; doch erst im digitalen Zeitalter ist die Technik zu einem breit angewandten Phänomen geworden – weil es nun technisch leicht realisierbar ist und die heutigen riesigen Datenmengen solche Darstellungsformen erfordern.

Meine "Split Screen Studies" befassen sich mit Möglichkeiten, aus verschiedenen, gleichzeitig laufenden Videoaufnahmen (Konzept-)Musik zu gestalten, wobei dank der visuellen Ebene auch Semantiken und Symbole darstellbar sind. Beispielsweise können aus vielen kleinen Aktionen Texturen gebildet werden, ähnlich wie im Orchester, hier aber mit Aufnahmen von außerhalb des Konzertsaals; oder zeitlich voneinander logisch getrennte Momente lassen sich zusammenführen – Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.

Stand
Autor/in
Johannes Kreidler