Werke des Jahres 2012

Spukhafte Fernwirkung

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Zwei Generationen von britischen Improvisationsmusikern bei der Donaueschinger NOWJazz Session 2012. Von Reinhard Kager.

Albert Einstein bezeichnete 1947 in einem Brief an Max Born das mysteriöse Phänomen der Quantenverschränkung als „spukhafte Fernwirkung“. Informationsübertragung ohne jede zeitliche Verzögerung, wie sie die Quantenmechanik im Widerspruch zur allgemeinen Relativitätstheorie zu implizieren schien, wies seiner Meinung nach auch auf Unzulänglichkeiten im quantenmechanischen Theoriegebäude hin. Ein Kernproblem der Physik, das sechzig Jahre später noch immer nicht gelöst ist.

Selbst wenn man versuchte, Kriterien für und Theorien über die Improvisation aufzustellen, könnte man danach trotzdem Musik machen, die gegen alle Regeln verstieße, die sich mit Theorien nicht in Einklang bringen ließe und dem Publikum dennoch ein eindrucksvolles musikalisches Erlebnis bescherte. Selbst wenn man versuchte, die Wechselwirkungen zwischen Klängen und MusikerInnen (und ZuhörerInnen) zu ergründen, könnte es immer auch dieses Gefühl einer „spukhaften Fernwirkung“ geben, die man nicht zu fassen bekäme. Was natürlich nur einer der Gründe ist, warum improvisierte Musik so zu fesseln vermag.

Unsere Komposition basiert auf einer Struktur von Zeit-Proportionen. Sie entwickelt sich von nebeneinander agierenden Duos über sich überlagernden Trios bis hin zu alternierenden Quartetten; sie beinhaltet Klangmaterial, das von Aufnahmen während der Probenphase stammt, bietet ein Spektrum an Möglichkeiten, die Beziehungen zwischen „Solo“ und „Begleitung“ zu organisieren, und umfasst auch einen geringen Anteil an ausnotiertem Material, auf das jeder Musiker und jede Musikerin nach Belieben zurückgreifen kann (oder nicht).

Die Komposition will weder die Musik noch die Musiker und Musikerinnen innerhalb ihrer Struktur einschließen, sie will vielmehr jene Bedingungen schaffen, die Momente des Entdeckens und Staunens ermöglichen und vielleicht miteinander verknüpfen. Ihr systematischer Aufbau steht nicht im Widerspruch zur improvisatorischen Intuition, sondern versteht sich als deren Kontrapunkt. Auf jeden Fall geht es uns nicht darum, wie die Musik gemacht wurde, sondern darum, was sie machen kann.

Übersetzung: Friederike Kulcsar

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Autor/in
SWR