Werke des Jahres 2012

Mostly British

Stand

Zwei Generationen von britischen Improvisationsmusikern bei der Donaueschinger NOWJazz Session 2012. Von Reinhard Kager.

Es war eine Zeit der großen Umbrüche, in den mittleren 1960er-Jahren, eine bewegte Phase der Geschichte, die sich auch in der Entwicklung des Jazz niederschlagen sollte: Nach der drohenden Eskalation des Kalten Krieges in der kubanischen Schweinebucht beginnt allmählich weltweit die Jugendbewegung zu brodeln; erste Kritik am Vietnam-Konflikt wird laut; in Bolivien tobt ein von Che Guevara angeführter Guerilla-Krieg; nur die Sowjetunion erstarrt in der Ära Breschnew. In den USA bricht hingegen der Jazz das Eis überlieferter Konventionen: Bereits 1960 hatte Ornette Coleman sein bahnbrechendes Album „Free Jazz“ veröffentlicht und damit eine von den Mustern der Tonalität losgelöste Spielweise initiiert; John Coltrane wird nach der hymnisch-gebetsartigen LP „A Love Supreme“ 1965 sein wildestes Album „Ascension“ publizieren; im selben Jahr erschließt Sun Ra mit seinem Arkestra die turbulenten „Heliocentric Worlds“, und 1967 verstört Archie Shepp mit seinem Quintett das Publikum der Donaueschinger Musiktage so nachhaltig, dass das Konzert mit einem Buh-Orkan endet.

Ungeachtet solcher Anfeindungen entwickelt sich im Sog der amerikanischen Wandlungen auch in Europa eine frei improvisierende Szene. Und es ist kaum übertrieben, Großbritannien als Wiege des europäischen Free Jazz zu bezeichnen. Bereits Anfang der 1960er-Jahre beginnen der Schlagzeuger John Stevens, der Saxophonist Trevor Watts und der Posaunist Paul Rutherford zu experimentieren, ehe sie mit dem Spontaneous Music Ensemble 1965 eine Gruppe gründen, die wegweisend für die britische Improvisationsszene werden sollte. Musiker wie Evan Parker, Derek Bailey, Kenny Wheeler oder Barry Guy spielen in der wechselnd besetzten Formation, deren Kern Stevens, Watts und Rutherford bilden. Wenige Jahre später, 1970, wird basierend auf diesen Erfahrungen das bis heute existierende London Jazz Composer's Orchestra um Barry Guy ins Leben gerufen, und letzten Endes lässt sich auch Evan Parkers 1992 gegründetes Electro-Acoustic Ensemble auf diesen Strang des britischen Improvisierens zurückführen.

Nicht minder bedeutsam für die Entwicklung der frei improvisierten Musik ist die AMM, ein wechselnd besetztes Musikerkollektiv aus London, das 1965, also im selben Jahr gegründet wurde wie das Spontaneous Music Ensemble. Obwohl in Mitteleuropa nicht immer so stark präsent, zählt die AMM wohl zu den einflussreichsten Formationen Großbritanniens und Europas überhaupt. Die Musik des Ensembles beschreitet freilich einen ganz anderen Weg als der energetische Free Jazz aus den USA. Zwar fanden sich mit dem Gitarristen Keith Rowe, dem Saxophonisten Lou Gare – zwei früheren Mitgliedern der Band von Mike Westbrook – und dem Drummer Eddie Prévost drei ausgewiesene Jazzmusiker in der ursprünglichen Gruppe, doch wandten sich diese bald ab vom rhythmischen Puls des traditionellen Jazz.

Prägend für die Musik der AMM war vor allem die Begegnung mit dem britischen Komponisten Cornelius Cardew, der die Musiker mit den Konzepten von John Cage vertraut machte. Unter dem Einfluss von Cardew, der von 1966 bis 1973 als Pianist und Cellist auch an Improvisationen der Gruppe mitgewirkt hatte, begann AMM ganz neue, eigenständige Ideen über das freie Improvisieren umzusetzen. Weniger der Beat der schwarzafrikanischen Rhythmik als vielmehr die stoische Ruhe der asiatischen Musik wurde fortan bedeutsam für das Ensemble, das nicht nur Geräuschtechniken integrierte, sondern auch einen neuen Umgang mit bewusst kalkulierten Pausen in ihren von langem Atem bestimmten Performances pflegte. Zweifellos war diese intensive Bezugnahme auf das Verhältnis zwischen Klang und bereits Verklungenem, zwischen Schall und Stille vom musikalischen Denken John Cages beeinflusst. Doch im Gegensatz zu den im strengen Sinn keinesfalls gänzlich indeterminierten Konzepten der aleatorischen Stücke von Cage, der den Interpreten in seinen Partituren sehr genaue Spielanweisungen vorschrieb, ging es AMM und Cardew um die Freisetzung der Kreativität der Improvisierenden jenseits aller kompositorischen Bevormundungen. Freie Improvisation im Sinne des ohne jegliche Absprache tatsächlich im Augenblick Entstehenden wurde für die AMM gewissermaßen zum künstlerischen Modell für eine gelungene politische Emanzipation und zum Verweis auf die Möglichkeit von herrschaftsfreier Kommunikation.

Ein anderer wesentlicher Grund für die klanglich singulären Wege der Musiker der AMM liegt wohl darin, dass mit Keith Rowe, Lou Gare und dem Cellisten Lawrence Sheaff in der Anfangsphase des Kollektivs drei ehemalige Kunststudenten mitwirkten. Die Haltung bildender Künstler, deren Ziel es ist, im Gegensatz zu klassisch ausgebildeten Musikern niemals nachschöpferisch zu wirken, sondern stets Neues zu schaffen, dürfte den Fokus der Gruppe aufs Innovative gerichtet haben. AMM, um deren kryptischen Titel sich einige Mythen ranken, stand also von jeher für eine Musik, die improvisiert ist und dennoch nicht Jazz, eine Musik, die sich nicht einordnen lässt und sich stets neu im Augenblick erfindet, um auf die Bedingungen des Musizierens zu reflektieren: „An adaptive appraisal of a meta-music“, wie der Untertitel einer jüngst publizierten Schrift von Eddie Prévost lautet, die vielleicht Antwort auf die Frage erteilt, was die Initialen AMM bedeuten könnten: eine Art Musik über Musik, bei der im Zuge des Improvisierens stets mitgedacht wird, worin deren inneres Wesen in der jeweiligen Gegenwart besteht.

Unter dem Einfluss der Bildenden Kunst ist übrigens auch Keith Rowes eigentümliche Table-Top-Guitar entstanden, die, ihres Resonanzkörpers weitgehend beraubt, mit Messern, Schrauben, Drahtschwämmchen oder Alufolien auf einer Tischplatte bespielt wird: von oben, ähnlich wie Jackson Pollock seine Leinwände bespritzte. Auch Kontaktmikrophone kamen zur Verstärkung der Geräuschebene und zur Verschleierung der instrumentalen Herkunft der Klänge zum Einsatz. Kein Wunder, dass sich das Klangbild der AMM eher der experimentellen Neuen Musik näherte als dem Jazz oder aus der Neuen Musik stammenden Improvisationsgruppen wie Franco Evangelistis Nuova Consonanza und der amerikanischen Musica Elettronica Viva.

Nicht zufällig wurde 1980 nach dem Ausscheiden Cornelius Cardews mit dem Pianisten John Tilbury ein ausgewiesener Spezialist für die Interpretation der Klavierwerke Morton Feldmans zum ständigen Ensemblemitglied. Obwohl Tilbury als einziger der Gruppe den unverfremdeten Klavierklang bevorzugt, ist er es, der den gleichsam nicht-direktionalen, kreisenden, auf kein Ziel gerichteten Formablauf der Improvisationen der AMM intensiviert. In Eddie Prévost, der längst abgerückt ist vom herkömmlichen Drum-Kit des Jazz und ein sparsames Percussion-Set mit Tom-Toms und klassischer Basstrommel bevorzugt, und dessen feinfühligem, flirrenden Spiel finden Tilburys Klangvorstellungen eine ideale Ergänzung. Nach über zwei Jahrzehnten, in denen die AMM hauptsächlich zu dritt – mit Prévost, Rowe und Tilbury – auftrat, agiert das Ensemble seit dem Ausscheiden Rowes 2004 im Duo – mit erlesenen Gästen wie dem Komponisten Christian Wolff oder dem Saxophonisten John Butcher.

Womit die Brücke geschlagen wäre von der AMM zur jüngeren Generation der britischen Improvisationsszene: Denn Butcher ist auch Mitglied von fORCH, dem 2005 beim NEWJazz Meeting des SWR erstmals formierten Oktett des Improvisationsduos FURT, alias Richard Barrett und Paul Obermayer (der übrigens gleichfalls Brite mit deutschen Vorfahren ist). Zwei Komponisten, die auch improvisieren – kein Wunder, dass die inhaltliche Verbindung zwischen fORCH, einer Kurzform von FURT Orchestra, und AMM sehr eng ist, auch wenn Barrett und Obermayer, die im Jahr 1986 zunächst mit Gitarre und Posaune gemeinsam zu spielen begannen, die Beziehung zwischen Komposition und Improvisation gleichsam von der anderen Seite aufrollen. Und dabei, seit den 1990er-Jahren, noch stärker auf elektronische Mittel setzen als AMM.

Mittlerweile verfügt FURT über ein ziemlich eigenständiges und ausgefeiltes elektronisches System: Über Keyboard-Tastaturen werden drei Computer angesteuert, in denen – meist während der Proben aufgezeichnete und elektronisch aufbereitete – Sound-Samples gespeichert sind, die direkt über die Tastaturen abgerufen und modelliert werden können. Dieser Zugang zur Elektronik unterscheidet sich fundamental vom heute zumeist eingesetzten Live-Processing, also von der Live-Elektronik, bei der im Augenblick einer Aufführung ertönende Instrumentalklänge von den Computern in Echtzeit verfremdet werden. Ein Unterschied, der wohl auch Evan Parker so reizvoll erschien, dass er FURT 2003 dazu einlud, bei den Donaueschinger Musiktagen in seinem Electro-Acoustic Ensemble mitzuwirken, das bis zu diesem Zeitpunkt ausschließlich Live-Elektronik eingesetzt hatte. Seither zählt FURT, gleichsam als Bindeglied zwischen den Instrumentalklängen und der Live-Elektronik, zum Stamm von Parkers legendärem Ensemble. Wodurch FURT Affinitäten zu beiden Strängen des britischen Improvisierens besitzt: Das Impulsive, Energetische ihres Spiels kann die Nähe zum klassischen Free Jazz kaum leugnen, doch das konzeptionelle Moment – wie fern es der asiatisch-schwebenden Nicht-Linearität von Prévost und Tilbury vordergründig auch sein mag –, die strukturbetonte Organisation ihres Improvisierens steht AMM sehr nahe. Das mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, zählt es doch zum Credo der AMM, ihre Improvisationen aus dem Augenblick heraus zu entfalten. Doch ist es Prévost und Tilbury durchaus bewusst, wie stark die intensive Auseinandersetzung mit kompositorischen Materialien noch die spontansten musikalischen Regungen prägt.

Barrett und Obermayer gehen jedoch noch einen Schritt weiter in Richtung des kompositorischen Denkens: Mittels teilweise ausnotierter Passagen, vorgegebener Klangtexturen und eines Strukturschemas versuchen die beiden, die Improvisationen in vorgezeichnete Bahnen zu lenken, ohne ihnen die Überraschungsmomente zu nehmen. Das war Barrett bereits 2005 beim NEWJazz Meeting mit seinem rund halbstündigen Stück „fOKT“ gelungen, das ein nahezu identisch besetztes Oktett wie in Donaueschingen zur Uraufführung brachte. Auffallend an dem Ensemble fORCH sind die beiden Vokalisten, Ute Wassermann und Phil Minton, die gleichsam die beiden Pole Komposition und Improvisation von jeweils verschiedenen Seiten repräsentieren und miteinander vereinen: Wassermann, als klassisch geschulte Interpretin, die eine Fülle von eigenwilligen Vokaltechniken entwickelte, gleichsam vom kompositorischen Blickwinkel her; Minton, als unnachahmlicher Schöpfer wortloser, jedoch bestürzend emotionaler Vokalisen, von Seiten des Improvisatorischen.

Um eine weitere ungewöhnliche Farbe ergänzt der Harfenist Rhodri Davies das Spiel, zumal er auch eine kleine elektrische Harfe und zahlreiche ungewöhnliche Spieltechniken einsetzt. Ähnlich den Verwandlungstaktiken der AMM bringt auch der Saxophonist John Butcher seine Instrumente mit zarten Multiphonics oder durch Circular Breathing ganz anders zum Klingen als mit dem sonst üblichen Saxophonsound des Jazz. Mit Paul Lovens – neben Ute Wassermann und der neu zur Gruppe gestoßenen kanadischen Bassklarinettistin Lori Freedman übrigens der einzige Nicht-Brite dieses Abends – besitzt fORCH zudem einen Schlagzeuger, der wunderbar feinfühlig auf elektronische Klangtexturen zu reagieren vermag. Eine Doppel-CD, die unter dem Titel „spin networks“ beim Label psi erschienen ist, bezeugt, wie gut das – mittlerweile auch auf Festivals wie in Huddersfield präsente – Ensemble bereits 2005 harmoniert hat.

Für die diesjährige Performance in Donaueschingen haben Barrett und Obermayer gemeinsam ein kompositorisches Konzept entwickelt, das ähnliche Bahnen einschlagen wird wie beim NEWJazz Meeting 2005: „spukhafte Fernwirkung“, ein Bonmot, das einem Brief Albert Einsteins an Max Born entnommen wurde, will die Phantasie der Improvisatoren keinesfalls einschränken, vielmehr durch eine strukturierte Form die Bedingungen der Möglichkeit schaffen, um Unerwartetes entstehen zu lassen. Bei aller Unterschiedlichkeit zur Musik der mittleren 1960er-Jahre: Der „Spirit“ der Pioniere des britischen Improvisierens, diese unbändige Lust, neue klangliche Entdeckungen zu machen, lebt in der jüngeren Generation ungestüm fort.

FURT und fORCH

Unterschiede zwischen Komposition und Improvisation spielen für den aus dem walisischen Swansea stammenden Richard Barrett (*1959) keine Rolle. In seinen Arbeiten sucht der studierte Naturwissenschaftler und Komponist nach Ideen und Konzepten, systematische Komplexität mit spontanem Ausdruck zu verbinden. Auch als Improvisationsmusiker im Duo FURT, das Barrett seit 1986 gemeinsam mit dem Londoner Paul Obermayer (*1964) bildet. Ausgebildet zunächst als Mathematiker, ist auch er als Composer-Performer im Bereich der elektroakustischen Musik aktiv, unter anderem in dem Trio BARK!. Obermayer, von dem zuletzt das Klavierstück „coil“ auf CD veröffentlicht wurde, tritt auch als Interpret zeitgenössischer Kompositionen auf. Stärker noch als Obermayer ist Richard Barrett als Komponist tätig. Die Werkliste Barretts, der 2001 durch ein DAAD-Stipendium nach Berlin kam, umfasst neben zahlreichen Vokal- und Kammermusikstücken auch Orchesterkompositionen, wie „Vanity“ (1990-94), „NO“ (2004) oder „IF“ (2006-2010), sowie Musiktheater, wie „Unter Wasser“ (1994-98) und „Dark Matter“ (2003). Nach einer Professur an der Brunel University in London (2006-2009) schuf Barrett zuletzt für das Huddersfield Contemporary Music Festival das hochkomplexe, zweistündige Ensemblestück „CONSTRUCTION“ (2005-2011), das vom Elision Ensemble uraufgeführt wurde, mit dem Barrett seit Jahren zusammenarbeitet. Seit 2003 ist FURT auch ständiges Mitglied von Evan Parkers Electro-Acoustic Ensemble. fORCH hatten Barrett und Obermayer 2005 anlässlich eines SWR NEWJazz Meetings als Erweiterung von FURT gegründet. Nach Auftritten beim Spitalfields Festival in London, beim Huddersfield Contemporary Music Festival und beim Sound Festival in Aberdeen spielt fORCH in Donaueschingen ein neues Projekt in geringfügig veränderter Besetzung.

Spukhafte Fernwirkung

Albert Einstein bezeichnete 1947 in einem Brief an Max Born das mysteriöse Phänomen der Quantenverschränkung als „spukhafte Fernwirkung“. Informationsübertragung ohne jede zeitliche Verzögerung, wie sie die Quantenmechanik im Widerspruch zur allgemeinen Relativitätstheorie zu implizieren schien, wies seiner Meinung nach auch auf Unzulänglichkeiten im quantenmechanischen Theoriegebäude hin. Ein Kernproblem der Physik, das sechzig Jahre später noch immer nicht gelöst ist.

Selbst wenn man versuchte, Kriterien für und Theorien über die Improvisation aufzustellen, könnte man danach trotzdem Musik machen, die gegen alle Regeln verstieße, die sich mit Theorien nicht in Einklang bringen ließe und dem Publikum dennoch ein eindrucksvolles musikalisches Erlebnis bescherte. Selbst wenn man versuchte, die Wechselwirkungen zwischen Klängen und MusikerInnen (und ZuhörerInnen) zu ergründen, könnte es immer auch dieses Gefühl einer „spukhaften Fernwirkung“ geben, die man nicht zu fassen bekäme. Was natürlich nur einer der Gründe ist, warum improvisierte Musik so zu fesseln vermag.

Unsere Komposition basiert auf einer Struktur von Zeit-Proportionen. Sie entwickelt sich von nebeneinander agierenden Duos über sich überlagernden Trios bis hin zu alternierenden Quartetten; sie beinhaltet Klangmaterial, das von Aufnahmen während der Probenphase stammt, bietet ein Spektrum an Möglichkeiten, die Beziehungen zwischen „Solo“ und „Begleitung“ zu organisieren, und umfasst auch einen geringen Anteil an ausnotiertem Material, auf das jeder Musiker und jede Musikerin nach Belieben zurückgreifen kann (oder nicht).

Die Komposition will weder die Musik noch die Musiker und Musikerinnen innerhalb ihrer Struktur einschließen, sie will vielmehr jene Bedingungen schaffen, die Momente des Entdeckens und Staunens ermöglichen und vielleicht miteinander verknüpfen. Ihr systematischer Aufbau steht nicht im Widerspruch zur improvisatorischen Intuition, sondern versteht sich als deren Kontrapunkt. Auf jeden Fall geht es uns nicht darum, wie die Musik gemacht wurde, sondern darum, was sie machen kann.

Übersetzung: Friederike Kulcsar

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SWR