Ein Konzert nach allen Regeln zu konzipieren erscheint mir heute eine unmögliche, unklare Sache. Bourbonisch.
Es ist bekannt, dass ich eigene Methoden und Antworten finde, dass das Unmögliche und Ungewöhnliche mich nicht wenig anziehen. Deshalb kümmere ich mich wenig um das einzuhaltende formale Vorgehen; dabei verdichten sich unklare Voraussetzungen um Form und Ausdruck herum, die skizziert werden müssen, wenn man über einen Solisten und eine Gruppe verfügt, und damit stellen sich einige Fragen.
Zunächst sage ich, dass die Vormachtstellung des Solisten zur Rhetorik führt, während der Dialog mit dem Tutti eine Gleichheit verlangt, die angesichts eines durch die modernen Instrumentaltechniken verloren gegangenen Gewebes nur noch mit Mühe erreicht werden kann.
Die Vormachtstellung über die Masse ist ideologisch suspekt (und damit überholt), doch kann sie sich auf grandiose Weise wieder rehabilitieren, wo immer sie Raum schafft für persönliche Potenziale, für den Antagonismus der Intelligenz, für Ideen, das heißt: überall da, wo der Interpret vollständig seine Möglichkeiten entfaltet. Bei Mario Caroli, dem diese Komposition gewidmet ist, ist das der Fall; seine stupende Technik und die Sensibilität seiner Klänge, einst unvorstellbar, machen meine Utopien möglich und haben, nicht nur für mich, die Flöte verändert.
Bedeutung erlangt ein Konzert nicht so sehr dadurch, dass es mit Schwierigkeiten überladen ist, sondern weil es einen Raum schafft, in dem die Identität eines Einzelnen sich seinem sozialen Kontext offenbart. Die Metapher vom konfliktgeladenen Verhältnis zwischen Individuum und Masse bleibt, so scheint mir, bei allem gemeinsamen Musizieren unausweichlich.
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Die verschiedenen Lösungen, mit denen ich im Lauf meines Weges, in fünfzig Jahren des Komponierens, experimentiert habe, sind vielfältig, und es sind Ansätze, die sich immer diszipliniert in Opposition gegen alles Akademische stellten, sei es alt oder neu.
Organische und nicht organische Formen (von der Tradition zurückgelassene Fossile) sind einander gefolgt und haben sich abgewechselt, symmetrische Formen oder psychologische Vorgehensweisen, schöne oder unschöne Formen: Ich habe versucht, Emotion und Überraschung anzustreben, indem ich Natur der Natur zurückgab. Denn Emotion und Überraschung machen den Klang, die Berechnungen und die Geometrie lebendig.
Einige Beispiele. Auf das hybrid genetische Rondo (1972), einer Art Kadenz, die aber aus heutigen Klängen und Ausdrucksmitteln komponiert ist, folgen Romanza (1973) und Variazioni (1974); das Orchester wird zu einer zerklüfteten, plastischen Konstellation, die sich gliedert und wieder auseinander treibt, in der die Gegenwart des Solisten wie das schwache Zirpen einer Grille zwischen den anderen Geräuschen der Nacht wirkt.
Über Un'immagine di Arpocrate (1979), über die Klavierfetzen, die innerhalb ihrer Klangaureole treiben, habe ich wiederholt geschrieben. Hierher gehört auch Allegoria della notte (1985), das wegen seiner intermittierenden Form erwähnt werden muss, die im Kopf des Zuhörers einen klaren Parallelismus der Dimensionen determiniert: die Bruchstücke einer Ikone des Konzerts (Mendelssohn) prallen auf die Bruchstücke eines doppelt unwirklichen Ultraschalls (meine Musik).
In den letzten Jahren habe ich aber angefangen, mich mehr für den allgemeinen Aufbau der Stücke zu interessieren. Ein weiterer Blick und ein längerer Atem entscheiden, ob eine einzige Form, in nur einem Bogen, konstruiert werden soll oder ob es mehrere Sätze werden, die miteinander verbunden oder kontrastierend sind. Es ergeben sich in dieser Richtung andere Möglichkeiten als nur die einfache politische wie einst. So kann sich etwa das traditionelle Album, gleichsam ein Fächer aus verschiedenen Charakteren (6 Capricci, 1976), in ein – echtes oder als solches hergestelltes – Register transformieren (Cadenzario, 1991) oder auch in einen Zyklus (Quaderna di strada, 2003, 12 Madrigali, 2007), Wege mit Zwischenstationen, Erzählungen, die sich im Spiegel verdoppeln.
Im Libro notturno delle voci wird noch eine weitere Variante aus der letztgenannten Kategorie erprobt. Mehrere Sätze werden gruppiert, symmetrisch zwar, doch zusammenhanglos, mit absichtsvollem Ungleichgewicht in der Kompositionsweise. Gefährlich oszillieren wir zwischen Kammermusik und sinfonischer Musik, zwischen solo und tutti.
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Schlünde. Bedrohlich. Ein Dämon will dich verschlingen, sagten sie. Tatsächlich erweist sich das mittelalterliche Inferno quasi als ein gigantischer Fisch (ein Seeteufel?), doch voller Höhlen, terrestrisch, der felsige Abgrund aufgerissen wie ein Maul.
Es ist Sache der Pupillen des Irrationalen, diese Bilder widerzuspiegeln, die den Ängsten, die uns verschlingen, Gestalt geben. Vater Chronos verschlingt die Kinder.
- Schläfst Du? höre ich eines Morgens fragen.
- Mit einem offenen und einem geschlossenen Auge, antworte ich. Und füge hinzu: Du könntest mich für eine Gorgone halten.
Ich bin die Chimären allzusehr gewohnt, denke ich, ich bin in den weniger besuchten Fluren eines archäologischen Museums aufgewachsen. Ich sah hinweg über die Ruinen des Krieges; die Gleise der Eisenbahn hinter dem Haus strebten gemächlich hin zum durchsichtigen Wasser des Hafens. Wohnungen und altmodische Fabriken stellten seltsame Eckskulpturen und zierliche Friese zur Schau: Zum x-ten Mal (vor jetzt hundert Jahren) trug ein zu uns verpflanzter Orientalismus seltsame Früchte. Ich sah, wie Technik, primitive Kulturen und Naturwissenschaften sich sanft miteinander verbunden hatten.
- Festivaljahrgänge
- Donaueschinger Musiktage 2009
- Themen in diesem Beitrag
- Salvatore Sciarrino, Libro notturno delle voci für Flöte und Orchester
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