Der Überfall auf die Ukraine jährt sich zum zweiten Mal. Unter den zahlreichen Schutzsuchenden in Deutschland befindet sich der größte lebende Komponist der Ukraine: Valentin Silvestrov. Ein Komponist, der im hohen Alter seine Heimat verlassen musste.
Valentin Silvestrov zu Gast bei Bundespräsident Steinmeier
Das Gesicht ist schmal, durchgeistigt, die schlanken Finger scheinen die Tasten am Flügel im Schloss Bellevue nur zart zu berühren. Der Bundespräsident hat ihn eingeladen, einen Monat nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine. Silvestrov ist am 9. März 2022 früh morgens geflohen, mit seiner Tochter und der Enkelin, vorbeigefahren an Tausenden von Flüchtenden.
Der Komponist erinnert sich: „Als wir da gesehen haben, was mit den Flüchtlingen passiert, wie sie an der Grenze stehen, in endlosen Menschenmengen, mit kleinen Kindern in der Kälte, da konnte ich nicht wegsehen. Ich habe das beobachtet, ich sah, welches Unglück herbeigeführt wird, wenn so verrückte Handlungen von Politikern begangen werden. Politiker, die für irgendwelche geopolitischen Fantasien Menschen in soviel Leid treiben.“
Silvestrov glaubte zunächst, dieses Leid nicht in Töne, in Musik fassen zu können, ein Irrtum. Seine leisen, meditativen Klänge ziehen die Gäste des Bundespräsidenten in den Bann.
Die Bamberger Symphoniker spielen Silvestrovs „Prayer for Ukraine“
Silvestrovs Musik spricht für ihn
Der in Kiew geborene Valentin Silvestrov, mittlerweile 86 Jahre alt, gibt keine Interviews mehr. Seine Musik spricht für ihn und auch für jene, die sie spielen. Das ukrainische Jugendorchester führt seine Werke regelmäßig auf.
Natalja Stez, eine Assistentin der berühmten Dirigentin Oksana Lyniv, steht bei den Proben im Konzerthaus am Pult. Sie dirigiert die Abendserenade, eines der bekanntesten Stücke von Silvestrov.
„Es ist der Traum der Nacht über das, was wir hatten und was wir verloren haben“, so Stez. „Wir sind alle hier an sicheren Orten. Wir spielen in diesem herrlichen Saal, vor Menschen und für Menschen, die so hilfsbereit sind. Aber dann gehen wir ins Bett und dann kommen die Bilder. (...) Die Musik hilft uns, Dinge zu sagen und auszudrücken. Dafür steht diese Musik, sie ist auch unser Traum“.
Zur Person Die Dirigentin Oksana Lyniv – Temperament, Präzision und Tiefgang
Ende Juli 2021 war es die Sensation bei den Bayreuther Festspielen: Am Dirigentenpult zur Premiere von Wagners "Fliegendem Holländer" stand zum ersten Mal eine Frau, Oksana Lyniv. Danach großer Jubel, auch bei der Fachpresse.
Beindruckt hatte sie vor allem mit ihrer Präzision, ihrem dirigentischem Temperament und ihrer enormen musikalischen Tiefe. Seit Januar 2022 ist Oksana Lyniv jetzt Chefdirigentin des italienischen Opernorchesters in Bologna. Zuvor leitete sie das Opernhaus in Graz. Über den Musikbetrieb, ihre steile Karriere und ihren persönlichen Blick als Dirigentin auf das Leben erzählt sie in SWR2.
Von Dorothea Hußlein
Klanggebilde des Innehaltens
Konzertmeisterin Warwara Wasiliewa ist in die Schweiz geflohen. „Diese Musik erinnert mich daran, wie still die Stadt im Krieg wurde“, erklärt sie. „Niemand hört mehr Musik in dieser Stadt, man sitzt nicht mehr im Café, es gibt keinen Verkehr, jeder versucht nur noch, still und unsichtbar zu sein. Diese Musik mit dieser Atmosphäre jetzt, sie hat viel vom Krieg für mich“
Ds Münchener Abendorchester spielt Silvestrovs Abendserenade
Die Abendserenade von Valentin Silvestrov, sie ist ein Klanggebilde der Stille und des Innehaltens. Auch die Berliner Philharmoniker haben sie mit ihrem Chefdirigenten Kirill Petrenko aufgenommen.
Silvestrov lebt jetzt in Berlin. Die Zukunft seiner Heimat ist ungewiss. Putin hält er für einen tausend Mal schlimmeren Terroristen als Osama bin Laden. Er müsste weltweit gejagt werden. Aber die russische Kultur, die russische Musik, die Malerei, die Literatur, Silvestrov liebt sie. Sie sei genauso zu Europa gehörend wie die ukrainische.
Musik im Ukrainekrieg
Medien-Tipp Kultur sichtbar machen: Die Website und App „Ukrainian Live Classic“
Heute vor einem Jahr hat der russische Angriffskrieg auf die Ukraine begonnen. Dadurch ist auch die ukrainische Kultur und speziell die Musikszene dort stärker in den Fokus gerückt. Schon vor dem Krieg haben einige Kulturschaffende im westukrainischen Lwiw die Internetseite ukrainianlive.org ins Leben gerufen. Kostenlos, und perfekt zum Stöbern!
Zur Person Der Dirigent Vladimir Jurowski – Künstler mit Haltung
Es war eine Art Schocktherapie für den damals 16jährigen Vladimir Jurowski, als er ein Orchester unter der Leitung von Leonard Bernstein hörte, seitdem wollte er Dirigent werden. Schnell macht er Karriere und zeigt Haltung, als Russland 2022 die Ukraine angreift. Sofort verurteilt der russische Dirigent diesen Krieg und entscheidet sich gegen den Generalboykott russischer Musik und Künstler.