In ihrem Roman „Meine Stadt“ erzählt die Schriftstellerin Xi Xi (1937-2022) mit wunderbarer Leichtigkeit episodisch von Menschen, Dingen und Träumen im Hongkong der 1970er Jahre.
„Ihr könnt hier wohnen“, sagen die Tanten zu Aguo, der mit Mutter und Schwester in das Haus der Familie einzieht.
Ein echter Schlüsselsatz gleich zu Anfang des Hongkong-Romans der Schriftstellerin Xi Xi, denn er öffnet seinen Lesern die Tür zu einem multiperspektivischen Stadtpanorama. Von Türen nämlich ist im Roman „Meine Stadt“ öfters die Rede: von ihrer Herstellung in einer traditionellen Schreinerwerkstatt, ihrer Wartung durch einen Türwächter, von Türrahmen, die den Blick freigeben in die engen Wohnungen einer Stadt, wo sich die Menschen drängen: Einheimische, Festlandschinesen, die in den 1950er Jahren vor Maos Kommunisten geflohen waren, und neu eingetroffene Bootsflüchtlinge aus Vietnam.
Die 1970er Jahre in der britischen Kronkolonie Hongkong
Der Roman ist in den 1970er Jahren angesiedelt, in der damals noch britischen Kronkolonie Hongkong. Während im benachbarten Festlandschina Maos Kulturrevolution ihre Spuren hinterlässt, ziehen prochinesische Demonstranten durch die Stadt und werfen sogenannte Ananasbomben auf die Sicherheitskräfte.
Die britische Verwaltung reformiert Hongkongs Sozialsystem. Und neben dem Englischen wird nun auch das Chinesische zur offiziellen Amtssprache, während im Alltag meist Kantonesisch gesprochen wird. Aus dem Kantonesischen, das sich im Schriftbild der chinesischen Zeichen bedient, hat auch Karin Betz Xi Xis Roman schlüssig ins Deutsche übersetzt. Wahrlich keine leichte Aufgabe! Zumal sich im Buch außerdem zahlreiche historische, politische und popkulturelle Anspielungen finden.
Facettenreicher Episoden-Roman
Um einen klassischen Roman mit durchgängiger Erzählperspektive und linearer Handlung handelt es sich dabei ohnehin nicht. Vielmehr haben wir es mit facettenreichen Episoden zu tun, die durch mehrere Figuren und wechselnde Erzähler aneinandergeknüpft sind.
Da ist zum Beispiel der schon erwähnte Aguo, ein junger Mann in Jeans, der Telefonleitungen in der ganzen Stadt repariert und gerne die Songs der Beatles hört. Da ist seine kleine Schwester, die Grundschülerin Afa, die ständig ihren Wecker um den Hals trägt. Oder der Lebenskünstler Mike Munter. Sämtliche Figuren bewegen sich wie in einer Art Fluidum um das eigentliche Zentrum: die Metropole Hongkong, die aber nie unter diesem Namen auftaucht, sondern nur „die Stadt“ heißt.
Hier handeln nicht nur Menschen, sondern auch Bücher, Türen und Pflanzen. Oft wird die surreale Verfremdung sogar noch weiter vorangetrieben – wenn sich etwa Häuser, Busse und Straßen einmal über Nacht in plastikverschweißte Pakete verwandeln – und zu Objekten einer, wie es heißt, „riesigen Wanderausstellung“ werden.
Einige der oft spielerisch anmutenden Schilderungen wurden von der Autorin selbst mit miniaturhaften Zeichnungen illustriert, die auch in der deutschen Buchausgabe zu finden sind. Anspielungen im Text verweisen auf französische Chansons, chinesische Klassiker oder den Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“ von Gabriel García Márquez.
Um 5 Uhr ist Feierabend
Auch an die Kolonialzeit auf dem chinesischen Festland wird erinnert. So muss der Parkwächter Mike Munter bei der Lektüre der städtischen Parkordnung an ein Schild denken, das während der Kolonialzeit angeblich in einem Park in Shanghai zu sehen war – mit der Aufschrift: „Eintritt für Hunde und Chinesen verboten!“ –, was den jungen Mann noch Generationen später in Wut versetzt.
Ein Schockmoment dann am Schluss: Der Fernmeldetechniker Aguo wird Zeuge eines kollektiven Selbstmords junger Menschen, die angesichts der weltweiten Ressourcenknappheit keinen Sinn mehr im Leben sehen. Doch selbst in dieser Situation verliert er nicht seine Zuversicht: Er hat die Telefonleitungen repariert und um 5 ist Feierabend.
Ganz sicher: Hongkong wird überleben. Xi Xis wunderbarer Roman bewahrt diese Botschaft wie eine Zeitkapsel. Knapp ein Jahrzehnt nach der Hongkonger Regenschirmrevolte können wir sie wieder öffnen.