Keine konkreten Vorschläge, wie man Care-Arbeit in Deutschland gerechter organisieren könnte
Sophie Lewis ist eine junge amerikanische Sozialwissenschaftlerin, die ihrer Arbeit an der Universität nachgeht und daneben Artikel und Bücher schreibt. Sie vertritt Thesen, die bei konservativen Kreisen auf wenig Begeisterung stoßen dürften. Ihr neues Buch heißt: „Die Familie abschaffen. Wie wir Care-Arbeit und Verwandtschaft neu erfinden"
Wer von Sophie Lewis´ Buch konkrete Vorschläge erwartet, wie die Care-Arbeit in Deutschland künftig so organisiert werden könnte, dass sie Kindern und Pflegebedürftigen gerecht wird, niemanden überfordert oder übervorteilt und obendrein bezahlbar ist, sollte ihr Buch nicht lesen. Denn „Die Familie abschaffen. Wie wir Care-Arbeit und Verwandtschaft neu erfinden“ sagt dazu so gut wie gar nichts.
Sie selbst könne kaum erwarten, was wohl an die Stelle der Familie treten könnte, formuliert Lewis denn auch am Ende ihres Essays. Sie erhofft sich die konkreten Ideen von anderen. Sie selbst hat lediglich ein paar interessante Anregungen aus der Geschichte ausgegraben, und ihr Lesefleiß zeigt sich daran, dass rund ein Drittel des Buches aus bibliographischen Angaben besteht. Wer mehr zur Geschichte lesen will, wird also fündig.
Lewis schreibt für eine US-Leserschaft
Sophie Lewis´ Thesen erinnern an die Behauptung der Sozialisten Anfang des 20. Jahrhunderts, dass die Abschaffung des Kapitalismus zugunsten des Sozialismus auch automatisch die Gleichberechtigung bringen und sämtliche Probleme der Frauen lösen werde. Lewis geht nämlich davon aus, dass die Überwindung des Kapitalismus es möglich machen würde, die Familie, aber auch die Polizei und die Gefängnisse abzuschaffen. Womit die Lösung der Probleme auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben wäre, denn nirgendwo am Horizont ist die Revolution abzusehen, die dem Kapitalismus den Garaus machen könnte.
Man mag Lewis zugutehalten, dass sie für eine US-Leserschaft schreibt. Und die, so formulierte es einst US-Präsident Harry Truman, definiert bereits Sozialversicherungen und Lebensmittel-Subventionen als Sozialismus. Nimmt man das zum Maßstab, haben wir in Deutschland den Kapitalismus bereits in Teilen überwunden, denn der Staat unterstützt die Care-Arbeit, wenn auch längst nicht immer zufriedenstellend.
Blick auf die einstige Situation der Sklaven
Auf die aktuelle Situation in Europa geht Lewis gar nicht ein, auf historische Beispiele nur sehr am Rande. Bei ihrem Blick durch die Geschichte befasst sich Lewis am ausführlichsten mit der Situation der amerikanischen Sklaven: Die weiße, hetero-patriarchale Gesellschaft habe damals weitgehend verhindert, dass die Sklaven Familien gründeten, woraus sich neue, solidarische Formen des Zusammenlebens und der Care-Arbeit gebildet hätten.
Die seien aber sehr schnell durch gezielte Gesetze unterbunden worden, da der Kapitalismus die hetero-sexuelle Klein-Familie benötige, um reibungslos zu funktionieren. Nicht zuletzt, weil der bürgerlich-kapitalistische Staat damit von der Verantwortung für jegliche Care-Arbeit befreit werde. Was für Europa ja nur teilweise stimmt.
Familie als Ort der Langeweile, Leere, Traumata
Bevor Lewis sich den geschichtlichen Beispielen der Abkehr von der Kernfamilie widmet, begründet sie zunächst ausführlich, weshalb sie für deren Abschaffung plädiert. Nicht nur wegen eigener schlechter Erfahrungen. Ein überwältigend großer Teil der Kunst und der Literatur behandelten ebenfalls das Unbehagen über das, was Lewis Familienideologie nennt. Familie sei Ort der Langeweile, der Leere, der Traumata, der gewetzten Messer und der Folterkammern, schreibt sie.
Sie folgert daraus, dass neue Formen des Zusammenlebens besser funktionieren würden. Nur: Wer garantiert das? Würden sich Schauerromane und Horrorfilme dann nicht bei den Unzulänglichkeiten des Zusammenlebens anderer Art bedienen? Schon der argentinisch-kubanische Revolutionär Ernesto Che Guevara ist mit seiner Utopie vom „Neuen Menschen“ gescheitert.
Die Autorin ist zwar Sozialwissenschaftlerin, doch „Die Familie abschaffen“ ist keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern eine stark zugespitzte, gut lesbare Streitschrift, geschrieben aus berechtigtem Frust vor allem über die Verhältnisse in den USA. In die Tiefe geht sie auch da nicht. Ob Mehrgenerationenhäuser, Regenbogen- oder Patchworkfamilien – die Suche nach neuen Formen des Zusammenlebens ist zumindest in Europa längst im Gange. Doch dazu findet sich bei Sophie Lewis nichts.