Noch dystopische Zukunft oder schon Gegenwart?
In diesen Tagen nun erscheint Sibylle Bergs neuer, mehr als 600 Seiten umfassender Roman "GRM". Das Buch erzählt mit sprachlichem Furor von vier Heranwachsenden, die der Widerwärtigkeit des neoliberalen Systems zum Opfer fallen und dagegen aufbegehren.
Daseinsberechtigung hat nur noch, wer sich als nützlich erweist. Eine Dystopie? Oder ein Buch mitten aus unserer Gegenwart?
Wütende „Grime“-Musik bildet die Tonspur
„Grime“, zu Deutsch Schmutz, ist eine Mitte der Nullerjahre in London entstandene Mischung aus elektronischer Musik, Drum and Bass und Hip-Hop. Ein harter, düsterer Sound der Unterprivilegierten, der in erster Linie von der Wut auf die Verhältnisse genährt wird.
Grime ist die Tonspur zu Sibylle Bergs neuem Roman, der wie eine Dystopie daherkommt, in Wahrheit aber als eine hoffnungslose Bestandsaufnahme der Gegenwart konzipiert ist.
Steckbriefe charakterisieren die Figuren
Berg, die sich ihren Ruf als Kultautorin mit mehr als einem Dutzend Romane und mit einer Vielzahl von Kolumnen auf Spiegel Online redlich erarbeitet hat, schickt eine Reihe von Figuren durch ein im Wortsinn asoziales England.
Jede dieser Figuren wird bei ihrem ersten Auftritt in einem Kurzstenogramm im Hinblick auf ihre soziale Position und ökonomische Verwertbarkeit skizziert und eingeordnet:
Bereits diese Entscheidung dokumentiert, dass es Sibylle Berg in „GRM“ nicht um die Entwicklung und Ausarbeitung von Charakteren im konventionellen Sinne geht. Sie entwirft Platzhalter für Erfahrungen, Demütigungen, Verletzungen und Ausbruchsversuche, die sie dann in unterschiedlichen Konstellationen und in einem einzigen Sprachrausch durchspielt.
Vier Heranwachsende ohne Zukunft
Im Zentrum des Romans stehen vier Heranwachsende in Rochdale, einer knapp 100 000 Einwohner zählenden Stadt nordöstlich von Manchester. Das Leben der vier Kinder, die sie zu Beginn noch sind, zerbröselt wie die Stadt, in der sie wohnen, an allen Ecken und Enden.
Rochdale mit seinen hässlichen Backsteinhäusern, den geschlossenen Läden, den Drogen, dem implodierten sozialen Gefüge, ist ein Sinnbild eines jahrzehntelangen Niedergangs, in dem die Menschen vom Kapitalismus entmenschlicht wurden. Zukunft ist ein Wort, das hier noch nicht einmal mehr gedacht wird.
Da sind sie also, hineingeboren in einen Ort und in Verhältnisse, die keinen Ausweg, sondern immer nur noch einen neuen Abgrund versprechen.
Unterschichts-Biographien aus dem Lehrbuch
Dons Mutter ist Alkoholikerin; ihr Freund misshandelt das Mädchen regelmäßig.
Peter ist mit seiner Mutter, ebenfalls Alkoholikerin, aus Polen eingewandert und wird im Keller eines verlassenen Gebäudes von einem Landsmann mehrfach vergewaltigt.
Hannahs Mutter gerät zwischen die Fronten eines Schusswechsels; der zuständige Arzt entscheidet sich, zuerst den Patienten mit höherem Sozialstatus zu operieren. Die Mutter stirbt; der Vater bringt sich um.
Karen verliert ihre Familie bei einem Hochhausbrand in London, wird als Streunerin von einem Pakistani aufgegriffen, mit Drogen gefügig gemacht und anderen Männern als Sexpuppe zur Verfügung gestellt.
Überleben wird zum einzigen Lebensinhalt
Alles und jeder in dieser Welt ist dreckig und gemein. Politik, Staat, Familie, Religion – allesamt depraviert und verkommen. Das Leben ist zu einem reinen Kampf geworden:
Sibylle Berg, das weiß man aus allen ihren Texten, ist in der Lage, pointiert und scharf zu formulieren. Das beweist sie auch in diesem Roman, in dem sich immer wieder bestechend gut geschriebene Sätze und Passagen finden, die die Resultate des frei galoppierenden Neoliberalismus in aller Schonungslosigkeit und Härte beschreiben.
Allein – diese Fähigkeit legitimiert bei weitem nicht einen mehr als 600 Seiten starken Roman.
Die immense Themenfülle übersättigt den Roman
In „GRM“ hat Sibylle Berg tatsächlich jedes, wirklich jedes Problem der Gegenwart aufgegriffen und in ihren zugegebenermaßen zu Beginn noch imponierendes sprachliches Dauerfeuer eingearbeitet:
Den Brexit und die Zeit danach, Sexismus, Rassismus, Vegetarismus und Migration, Fußball, Nazis, Altright, den Abriss des Sozialstaats, den Abbau des staatlichen Gesundheitssystems, Sterbehilfe, Islamismus und natürlich immer wieder und wieder das für all das verantwortliche Testosteron.
Schuld sind, wie immer bei Berg: die Männer
Anders gesagt: Die Welt ist runtergerockt, es gibt kein oben und unten, kein Gut und Böse. Pervers sind alle. Die Schuld daran tragen naturgemäß die Männer, die sich nehmen, was sie brauchen und darüber verfügen, wie sie es wollen:
Gegen dieses System schließen sich Don, Karen, Peter und Hannah zusammen. Sie fliehen ihren Heimatort, gehen nach London, quartieren sich in einer leerstehenden Fabrikhalle ein und sinnen auf Rache an all diejenigen, die ihre Existenz zu dem gemacht hat, was sie ist.
Die Grausamkeiten im Roman sind keineswegs erfunden
Bergs manische Misandrie ist im Übrigen das kleinste Problem dieses Buches. Das wäre ein rein inhaltlicher Einwand. Dem könnte man entgegensetzen, dass „GRM“ tatsächlich ziemlich schlau auf dem schmalen Grat zwischen dystopischem Entwurf und Gegenwartsbeschreibung balanciert.
Denn all das, was an Schweinereien, Manipulationen und Unterdrückungsmechanismen aufgefahren wird, ist keine Erfindung, sondern es ist bereits mehr oder weniger virulent vorhanden.
Smarte Geräte und Apps als Eintritt in das Überwachungszeitalter
Bergs schwarze Vision einer Überwachungsdiktatur, in dem der Staat seine Aufgaben an private, rein gewinnorientiert handelnde Institutionen verscherbelt hat und in der Daseinsberechtigung nach Nützlichkeit beurteilt wird, ist die auf die Spitze getriebene Konsequenz der Entwicklung seit den 1990er-Jahren:
Dem Leid fehlt der positive Kontrast
Dass Problem von „GRM“ ist zum einen, dass Bergs hochgejazzter, stakkatohafter Apokalypsen-Sound schnell zu einem Ermüdungseffekt führt, weil ihm jegliche Variationen abgehen. Wo das Elend keine Kontraste hat, verliert es auch schnell seinen Schrecken.
Noch gravierender allerdings ist die Tatsache, dass die Erzählstimme selbst dem Rausch ihrer Virtuosität verfällt. Man kann und soll „GRM“ als ein mal Anteil nehmendes, mal wütend anklagendes Buch lesen.
Zu lang und wenig strukturiert
Mit fortschreitender Lektüre beschleicht einen allerdings das ungute Gefühl, dass Sibylle Berg in der von ihr ausgebreiteten Widerwärtigkeit, dem Ekel, der Gewalt genussvoll schwelgt, weil es sich erzählerisch darin so bequem einrichten lässt.
Ein Hauch von Voyeurismus weht durch diesen viel zu langen Roman, dessen Struktur noch dazu vollkommen unklar bleibt und dessen Ton sich mit den Figuren niemals ändert: „GRM“ ist eine Sibylle-Berg-Kolumne in Überüberlänge.
Dringliche Botschaften, die den Roman jedoch nicht retten
Die Autorin wird in den kommenden Wochen mit ihrem Buch und mehreren britischen Grime-Musikern auf eine Performance-Tour durch Österreich, Deutschland und die Schweiz aufbrechen. Ihre Gemeinde, das ist sicher, wird in Scharen zu den Veranstaltungen strömen.
Berg hat ohne Zweifel dringliche und wichtige Botschaften im Gepäck. Allein – ein gelungener Roman ist daraus nicht geworden.