SWR2 lesenswert Kritik

Rudolf Neumaier – Das Reh. Über ein sagenhaftes Tier

Stand
Autor/in
Barbara Dobrick

Rehe sind die einzigen wildlebenden Säugetiere, die wir regelmäßig zu Gesicht bekommen können, jedenfalls auf dem Land. Sie haben Bewunderer und Feinde, zu letzteren gehören – ungewollt – Autofahrer und neuerdings wieder Wölfe. Im Jagdjahr 2020/2021 wurden 1,3 Mio. Stück Rehwild getötet, davon rund 200.000 im Straßenverkehr.

Rudolf Neumaier zeigt in seinem Buch „Das Reh. Über ein sagenhaftes Tier“, dass er viel weiß über Biologie und Lebensweise von Rehen, nicht zuletzt, weil er selbst, wenn auch erst relativ spät, Jäger geworden ist. Dabei hat er viel Faszinierendes gelernt und gibt es weiter – unterhaltsam, mitunter witzig, aber auch mit dem gebotenen Ernst.

Schon manche Wörter der Jägersprache, nicht zu verwechseln mit Jägerlatein, dürften für viele neu sein: Ein Reh trinkt nicht, es „schöpft“, und seine Zunge heißt „Lecker“. Sein Fell wird „Decke“ genannt; seine Körperteile und sein Tun haben mal explizite, mal geheimnisvolle Bezeichnungen.

Neumaier hat gelernt, ein Reh zu erlegen. Waidgerecht, d.h. mit einem Schuss, der sitzt. Abgegeben nur, weil er vertretbar oder sogar nötig ist. Bei der Frage, was nötig sei, scheiden sich allerdings die Geister.

Solange sie leben, gehören Rehe niemandem, erklärt der Autor. Wer Wild auf welche Weise töten und sich die Körper aneignen darf, ist gesetzlich streng geregelt. Um diese Regeln wird gestritten, vor allem über Abschusspläne, in denen Jagdbehörden bestimmen, wie viele Rehe erlegt werden müssen. Ja, müssen.

Zunächst aber widmet sich Neumaier dem Reh in Kunst und Geschichte. Ein Reh-Gemälde von Franz Marc hat jeder schon gesehen, und alle kennen Bambi, erst Roman-, dann Filmfigur. „Das Reh ist wie gemacht für Künstler und Schwärmer“, konstatiert der Autor und gerät selbst ins Schwärmen: Das Reh sei durch seine scheue Schönheit und Anmut ein Sehnsuchtstier. Und so wünscht man sich beim Lesen dann bald, äsende Rehe und ihre Kitze auf Wiesen beobachten zu können.

Die zweite Hälfte seines Buches widmet Neumaier dem Reh als „Politikum“. Da schreibt er: „Es geht um einen Konflikt zwischen Forst und Jagd, zwischen Pflanzenökonomie und Ethik im Umgang mit Tieren. Es geht um Geld.“ Er will aufklären, denn es empört ihn, dass Zahlen nach Interessenlage präsentiert und interpretiert werden. Neumaier nennt das „problemverstärkenden Populismus“ und nimmt solche Jäger aufs Korn, die Rehe nicht mögen oder sogar hassen.

Rudolf Neumaier wird geleitet von einem modernen Verständnis von Tierwohl und Jägerei. Er sieht keinen Gegensatz zwischen Tierschutz, waidgerechter Jagd und Naturschutz in unseren Wäldern, prangert aber die einseitige Parteinahme für die Interessen der Forstwirte an. Nachwachsende Bäume können auch anders als durch immer höhere Abschusszahlen vor Verbiss geschützt werden, betont er und beklagt, dass Förster im Revier drei Rollen in Personalunion einnehmen dürften, nämlich die eines Polizisten, eines Staatsanwalts und eines Richters; so sei ein „Meinungsbildungsmonopol“ erwachsen.

Neumaiers Befund ließe sich so zusammenfassen: Forstwirte kämpfen mit falschen Methoden verbissen gegen Verbiss, statt den nötigen Waldumbau klug zu gestalten. Seine Argumente wirken so stimmig, dass er auf die eine oder andere Wiederholung hätte verzichten und sich dafür mit einigen Zeilen den Wölfen widmen können, die sich seit dem Mauerfall rasch vermehrt haben, weil sie unter Schutz stehen.

Für Menschen mit Interesse an heimischer Flora und Fauna sind Neumaiers Ausführungen erhellend, auch deshalb, weil das Thema Wildschäden in Gärten, Wäldern und durch Unfälle in den Medien tatsächlich manchmal recht einseitig dargestellt wird.

Hanser Verlag, 223 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-446-27279-8

Rudolf Neumaier war viele Jahre Journalist bei der Süddeutschen Zeitung, zuletzt als leitender Redakteur im Feuilleton. Seit dem letzten Jahr ist er Geschäftsführer des "Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege" und damit beruflich der Natur verbunden.

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Barbara Dobrick