Buchkritik

Rob van Essen – Hier wohnen auch Menschen

Stand
Autor/in
Julia Schröder

Die zwölf Geschichten des gleich zweimal mit dem Libris Literatuur Prijs, dem höchstdotierten niederländischen Literaturpreis, ausgezeichneten Autors Rob van Essen schillern zwischen dem Unheimlichen und dem Alltäglichen, zwischen Tragik und Komik, und die meisten von ihnen warten mit überraschenden Pointen auf.

In Nettetal am Niederrhein, dem Sitz des Elif Verlags, ist die Grenze zu den Niederlanden nur zehn Kilometer entfernt. Vielleicht war es auch diese geografische Nähe, die den Verleger Dinçer Güçyeter bewogen hat, eine Auswahl kurzer Prosa des Niederländers Rob van Essen übersetzen zu lassen.

Ein Dutzend Erzählungen zwischen fünf und 40 Seiten, entstanden zwischen 2010 und 2020, umfasst der Band „Hier wohnen auch Menschen“, und gemeinsam haben sie, dass sie sich jeder vorschnellen Einordnung entziehen.  

Die jungen Herrchen sind alle tot 

Viele warten mit krassen Überraschungen und zuweilen dann doch absehbaren Wendungen auf. Bei einigen schleicht sich, ähnlich wie bei Margriet de Moor oder Connie Palmen, ein mystisches Element ins Alltägliche ein, bei anderen herrscht von Anfang an eine alternative Realität. So im zweiten Text, betitelt „All die toten Herrchen“, der mit den ersten Sätzen mitten hineinspringt ins zunächst rätselhafte Geschehen: 

Heute Nachmittag bin ich zu Johanna gegangen, um ihr mit den Hunden zu helfen. Ich habe einen kleinen Umweg gemacht, weil ich zum Martin-Luther-King-Park wollte, um mir das Monument für die Grippeopfer anzusehen.

In dieser dystopischen Geschichte sterben an der sogenannten Grippe ausschließlich junge Menschen, nur die Alten überleben. Die Pandemiefolgen sind auf die Spitze getrieben, von Restaurantschließungen und Regierungskrise bis zu Übergriffen und Plünderungen. Die entleerten Kitas werden von Johanna zu Tier-Asylen umfunktioniert, denn die Herrchen sind ja alle tot. 

Ungeheuerlichkeiten knapp neben der gewohnten Realität 

Der Reiz dieser Erzählung liegt nicht etwa in einer konventionellen Spannungskurve, sondern in der Beiläufigkeit, mit der der Ich-Erzähler Ungeheuerlichkeiten streift, die knapp neben unserer gewohnten Realität liegen. Angesiedelt ist sie, wie alle Texte des Bandes, in teils wiedererkennbaren Schauplätzen in den Niederlanden, am Martin-Luther-King-Park in Amsterdam oder in x-beliebigen Vororten. 

Viele der Geschichten greifen philosophische Probleme auf. Etwa das Zeitreiseparadox, konkret: die Frage, ob und, wenn ja, wie ein depressiver Zeitreisender aus der Zukunft seine Eltern davon abhalten könnte, ihn zu zeugen. Darum geht es im Text „Der lästigste Gast aller Zeiten“. Ein Besucher namens Erik nistet sich bei einem jungen Paar ein und verschwindet irgendwann spurlos.

Er hinterlässt einen Brief, der die Ich-Erzählerin und ihren Mann aufklärt, er sei ihr späterer Sohn und in die Vergangenheit gereist, um die Familienplanung zu durchkreuzen, was ihm gelungen zu sein scheint. Nachträglich versuchen die beiden, die verhinderte Fortpflanzung doch noch hinzubekommen. 

Ich dachte, es würde schwer werden, nach all dem Wein einen hochzukriegen, aber nein, die Vorstellung, Erik zu zeugen, macht ihn offensichtlich an, und mich auch, und nicht nur in dieser Nacht, wir haben eine Mission, wir vögeln in dieser Nacht und in den folgenden, als ginge es um unser Leben, oder zumindest um das von Erik.

Das Schillern zwischen Tragik und Komik, Unheimlichem und Banalem, Realismus, Fantastik und Absurdität ist das Charakteristikum dieser Geschichten. Auch formal spielt Rob van Essen auf unterschiedlichen Registern, von scheinbar ganz einfacher Szenenfolge bis zu ambitionierter zeitlicher Verschachtelung. Manche erstrecken sich geradezu episch über viele Jahre oder sogar Jahrzehnte.  

Das Glück, ein Leben lang verpasst 

So die Erzählung „Ich versprech’s dir“, in der ein junger Mann kurz das Glück erfährt und es durch passives Zuwarten lebenslang verpasst. Diese traurige Pointe ist allerdings ein bisschen durchsichtig, und auch im längsten Text der Sammlung, „Das Haus an der Amstel“, ahnt man früh, dass ein liebevoll gepflegter Kult um eine extrem aufwendige, angeblich koreanische Meditationstechnik den Realitätscheck vor Ort nicht überstehen wird.

So bleibt der zwiespältige Eindruck eines bemerkenswert eigenständigen Autors, der bei allem Einfallsreichtum zuweilen unter seinen erzählerischen Möglichkeiten bleibt. 

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