Was für eine tolle Wort-Neuschöpfung: „Dämonenräumdienst“. Gleich tauchen vor dem inneren Auge städtische Angestellte in orange-farbenen Overalls auf, die man über eine Hotline herbeirufen kann. Aber gegen welche Art von Dämonen sollen diese Leute denn ausrücken?
Literatur Verleihung des Peter-Huchel-Preises 2021 und 2020 an Marcel Beyer und Henning Ziebritzki
Da eine öffentliche Verleihung auch 2021 nicht stattfinden kann, werden die Preisträger der beiden Jahre online mit einem Video-Programm gewürdigt.
„Die Bunkerkönigin“
Es können böse Geister sein: Todesängste, die das lyrische Ich befallen. Oder früh morgens am Schreibtisch der horror vacui vorm leeren Blatt, wenn es mit der Arbeit nicht recht vorwärts geht. Beklemmende Kindheitserinnerungen oder auch dunkle Schatten der Vergangenheit – wie in dem Langgedicht „Die Bunkerkönigin“ am Ende des Gedichtbandes:
„Hier hebe ich keinen mächtigen
Deckstein an, hier suche ich nicht
nach Grabbeigaben oder
nach Leichenschatten, ich lasse
Moorbrühe sprudeln in der
Kammer, auf den Gängen, lasse
die Bunkerlauge, den ewig
nachtropfenden Bunkerschweiß,
lasse das ganze faule Gebräu sich
mit Kriegs- und Nachkriegsdreck
vermengen, lasse Betondecken
Moorboden sein: Ich räume
auf vor meinem inneren Auge.“
Moshammer. Ein Wort wie Baggerblut
Doch Marcel Beyer bannt diese sehr unterschiedlichen Dämonen nicht nur in dunklen Dichterworten, sondern in vielen Gedichten auch mit reichlich Humor und Ironie.
Ganz unterschiedliche Figuren haben ihre Auftritte: ein Nachwuchskosmonaut, ein Pferde-Krimileser, Elfen aus dem Drogeriemarkt, Hildegard Knef oder der Münchner Modedesigner und Schickeria-Liebling Rudolph Moshammer mit seinem Hündchen namens Daisy:
„Moshammer. Ein Wort wie Baggerblut.
Der Name flößt Vertrauen ein.
So möchte man heißen. Doch du
heißt Daisy und läßt dich leicht durch
einen milden Münchner Abend tragen.“
Andere Perspektiven einnehmen, neue Blickwinkel suchen, das sieht Marcel Beyer als eine wichtige Aufgabe von Dichtern.
Marcel Beyer, geboren am 23. November 1965 in Tailfingen, wuchs in Kiel und Neuss auf. Er studierte Germanistik, Anglistik und Literaturwissenschaft an der Universität Siegen. Für sein Lyrik, Prosa und Essays umfassendes Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, unter anderem 2008 mit dem Joseph-Breitbach-Preis und 2016 mit dem Georg-Büchner-Preis. Bis 1996 lebte Marcel Beyer in Köln, seitdem ist er in Dresden ansässig.
Begründung der Jury
„Marcel Beyers Gedichte sind Abenteuerexpeditionen in vertrautes Gelände, das plötzlich fremd und unheimlich erscheint. Elternhaus und Elvis, die Eindrücke der Kindheit, magische Begegnungen mit den Phänomenen der Popkultur und den Helden der Klatschspalten – all das wird in Beyers streng komponierten Gedichten aufgegriffen, in unerhörte Zusammenhänge gerückt, verfremdet und mit den Mitteln von Zitat, Collage, Komik und ironischer Brechung neu arrangiert.
Der Titel „Dämonenräumdienst“ ist dabei durchaus wörtlich zu nehmen. Hier werden die Geister der jüngeren deutschen Vergangenheit aufgerufen, um sie durcheinanderzuwirbeln und einer poetischen Choreographie zu unterwerfen: Aufräumarbeiten vor dem inneren Auge eines erfindungsreichen Dichters.“
SWR2 Literaturkritiker Carsten Otte über „Dämonenräumdienst“ von Marcel Beyer
Der vom Land Baden-Württemberg und dem Südwestrundfunk gestiftete und mit 10.000 Euro dotierte Peter-Huchel-Preis für deutschsprachige Lyrik konnte coronabedingt zum zweiten Mal nicht öffentlich vergeben werden.