SWR2 lesenswert Kritik

Nikolai Epplée – Die unbequeme Vergangenheit. Vom Umgang mit Staatsverbrechen in Russland und anderswo

Stand
Autor/in
Judith Leister

Der Russe Nikolai Epplée folgt den Spuren der russischen Repressionsgeschichte seit der Oktoberrevolution und findet dabei Untote, die Putin und der russisch-orthodoxen Kirche noch immer als Staffage dienen.

Am Anfang von Nikolai Epplées Buch „Die unbequeme Vergangenheit“ steht eine Schlüsselszene. Bei einer Familienfeier entbrennt ein Streit zwischen seinem Großvater, einem Kriegsveteranen, Stalinisten und orthodoxen Christen und einer Großtante, deren Mann fast in den Gulag deportiert worden wäre.

Der Autor bemerkt: „ ... diese beiden Menschen (hatten) ihr Leben offenbar in Ländern mit völlig unterschiedlichen Vergangenheiten verbracht ...“ Epplée schlussfolgert, dass die Erinnerung in Russland Privatsache ist: Abhängig von persönlichen Erlebnissen kann man den Stalinistischen Terror wahlweise für historische Wahrheit oder üble Verleumdung halten.

Zehn Millionen Opfer im russischen Bürgerkrieg

Zunächst rekapituliert Epplée die – Zitat – „innere Kolonisierung des Landes“. Die zehn Millionen Opfer des Bürgerkriegs. Die blutig niedergeschlagenen Aufstände von Hunderttausenden Bauern gegen die Zwangskollektivierung.

Die Errichtung des Gulag-Systems, das Menschen für den Bau von Kanälen und Staudämmen, den Abbau von Bodenschätzen und die Forstwirtschaft versklavte. Zum Zeitpunkt von Stalins Tod 1953, in der Hochzeit des Lagersystems, litten 2,5 Mio. Sowjetbürger in Lagern.

Während des sogenannten Tauwetters unter Chruschtschow wurden rund 800.000 Menschen eher halbherzig rehabilitiert. Nach 20 bleiernen Breschnew-Jahren kam dann die Perestroika mit der Rehabilitierung von rund 1,5 Mio. Menschen. Was es allerdings kaum gab, waren individuelle Gerichtsurteile, die Täter und Opfer klar benannten.

Russisch-orthodoxe Kirche als wichtige Akteurin der Geschichtspolitik

Bereits in den 1990er Jahren wurde die russisch-orthodoxe Kirche zur wichtigen Akteurin der Geschichtspolitik, was zur Heiligsprechung Tausender sogenannter Neumärtyrer führte. Allein bei den kirchlichen „Zarentagen“ zum Gedenken an die erschossene Herrscherfamilie fänden sich alljährlich 100.000 Menschen ein.

Dabei betonte die Kirche stets, das Opfergedenken dürfe nicht „antipatriotisch und antisowjetisch“ sein. Man spricht zwar davon, dass eine „gottesfeindliche Macht“ das zaristische Russland zerstört hat, schließt die individuelle Ahndung von Verbrechen jedoch aus.

Auch an der Entwicklung des populären Narrativs, dass es unter Stalin sowohl „Exzesse“ als auch „Erfolge“ gegeben habe, war mit Bischof Tichon Schewkunow, dem Metropoliten von Pskow, ein Kirchenvertreter beteiligt. In dieser Perspektive wird Stalin zum „effizienten Manager“, eine Behauptung, die sich für Putin als äußerst anschlussfähig erwies.

2017 eröffneten der Bischof und Putin gemeinsam zum 100. Jahrestag der Revolution die Kathedrale der heiligen Neumärtyrer am Sretenski-Kloster in Moskau. Und schon seit 2015, und erst recht seit der Großoffensive letztes Jahr, werden in Russland wieder Denkmäler für Stalin eingeweiht.

Nicht abgeschlossene Vergangenheitsaufarbeitung

Epplée spricht von einer Vergangenheitsbesessenheit der Russen, welche die politische Diskussion ersetze und sogar Kriege rechtfertige. Sie sei eine Folge der nicht abgeschlossenen Vergangenheitsaufarbeitung, die in seiner Erzählung zeitweise sogar unheimliche Züge annimmt.

So berichten die Rentierzüchter im Dorf Topolinoje in Jakutien auf dem Gebiet eines ehemaligen Lagerkomplexes heute von Geistererscheinungen. Dort wurden die Körper toter Gefangener – schrecklich genug – als Füllmaterial beim Straßenbau verwendet.

Ob Spuk oder nicht – Nikolai Epplées Buch vermittelt profundes Wissen über Russland kompakt und sehr gut verständlich. Dass er sich seinen verhaltenen Optimismus aus der Zeit vor dem Kriegsausbruch erhalten hat, dürfte allerdings unwahrscheinlich sein.

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Autor/in
Judith Leister