„Denn die einen sind im Dunkeln/Und die andern sind im Licht.“ Sie kennen das Zitat. „Und man siehet die im Lichte/Die im Dunkeln sieht man nicht.“ Diese Zeilen aus Bertolt Brechts „Moritat von Mackie Messer“ fallen einem sofort ein, wenn man „Die Stadt der Lebenden“, das neue Buch des italienischen Schriftstellers Nicola Lagioia liest.
Es erzählt von einem wahren Verbrechen, das im Jahr 2016 ganz Italien schockierte: Zwei junge Männer „aus gutem Haus“, wie man sagt, brachten damals einen dritten auf grausame Weise um, den 23-jährigen Luca Varani. Zuvor hatten sie ihn unter Drogen gesetzt und gefoltert.
Der Versuch, ein grausames Verbrechen zu verstehen
Lagioia, der zunächst als Journalist für „Venerdì“, die wöchentliche Beilage der Tageszeitung „La Repubblica“, über die Tat berichtet hatte, geht ihr nun auf 500 Seiten auf den Grund. Er versucht, den Mord zu rekonstruieren, spricht mit zahlreichen Beteiligten und will die Ursachen eines Verbrechens verstehen, für das es kein ersichtliches Motiv gibt. Es geht ihm dabei nicht nur um dessen Umstände, sondern um die Natur des Bösen. Um den schmalen Grat, auf dem jeder von uns am Abgrund balanciert.
„Wir alle fürchten, in die Rolle des Opfers zu geraten“, schreibt Lagioia. „Aber welche emotionale Hürde müssen wir überwinden, um uns vorzustellen, dass wir eines Tages in die Rolle des Täters schlüpfen könnten?“
„Die Stadt der Lebenden“ ist eine Mischung aus Reportage, Memoir und Fiktion. Lagioia beschreibt seine Recherche und erzählt die Geschehnisse auf Basis von Vernehmungsprotokollen nach.
Trotzdem ist sein Blick kein rein journalistischer. Denn Lagioia schildert auch, warum der Fall ihn nicht loslässt: In den 1980er Jahren wäre er als Jugendlicher im süditalienischen Bari nämlich selbst beinah abgerutscht.
Schilderung wahrer Ereignisse
Zusätzlich unterbricht er die Schilderung wahrer Ereignisse immer wieder mit einer fiktiven Geschichte. Sie erzählt von einem Pädophilen, der nach Rom kommt, um Sex mit Minderjährigen zu haben. Dieses Vorgehen, Genres, Fakten und Fiktion zu vermischen, kann – wie im Fall der autobiografischen Passagen – neue Perspektiven öffnen.
Beim Fall des Pädophilen ist es aber inhaltlich fragwürdig. Denn der wahre Mord an Luca Varani fand im homosexuellen Milieu statt. Dieses mit der Geschichte eines Pädophilen in Beziehung zu setzen, unterstreicht fatale und falsche Klischees.
Lagioia mag das nicht beabsichtigt haben. Vielleicht schrieb er darüber, weil etwa zeitgleich mit dem Mord in Rom auch ein realer Pädophilenring aufgedeckt wurde. Die desaströsen Zustände in der italienischen Hauptstadt spielen für das Buch eine entscheidende Rolle.
Die „Ewige Stadt“ als Zentrum des Bösen
„Die Stadt der Lebenden“ ist nicht zuletzt ein zwiespältiges Porträt Roms. Zuweilen möchte man die „Ewige Stadt“ fast als Mittäterin bezeichnen. Rom ist bei Lagioia keine strahlende Schönheit, sondern ist ein Moloch, in dem das Böse blühend gedeiht.
Lagioia zitiert hierzu den ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti: „Schieben wir die Schuld an den Übeln Roms nicht auf die Überbevölkerung. Als es nur zwei Römer gab, tötete einer den anderen.“
Bei der Lektüre entwickelt „Die Stadt der Lebenden“ einen regelrechten Sog – und hinterlässt ein beklemmendes Gefühl: Die Ereignisse, um die es geht, sind noch gar nicht lang her. Viele der Beteiligten leben noch – die Freundin des Mordopfers ist heute 30 Jahre alt.
Über Google kann man Bilder von ihnen, mitunter Interviews und Social Media-Accounts finden. Was mögen diese Menschen darüber denken, dass aus ihrem Leid ein Bestseller geworden ist? Und welche Berechtigung hat man als Leserin, intimste Details aus ihren Leben zu erfahren?
Lagioias Buch ist schockierend – wegen des Verbrechens, von dem es erzählt, aber auch wegen des Medienrummels, der folgte. Lagioia schildert präzise die grausamen Mechanismen einer voyeuristischen Lust an der Tat – und kann sich davon selbst nicht ganz ausnehmen.
Denn auch wenn sein Ton niemals effekthascherisch, sondern nachdenklich und weitestgehend urteilsfrei ist, ist nicht zu leugnen, dass er die Tragödie anderer für seine eigenen schriftstellerischen Ambitionen nutzt. Trotzdem ist „Die Stadt der Lebenden“ keine platte True Crime-Geschichte.
Das Buch wirft eine Reihe von Fragen auf und überführt dabei in gewisser Weise auch seine Leser: Wenn wir der Geschichte so gebannt folgen – was haben wir mit dem hier Geschilderten zu tun, wie nah sind wir selbst am sogenannten „Bösen“? Dass ein Buch dazu führt, sich nach der Lektüre selbst zu hinterfragen, ist nicht wenig.