Es ist ein kalter, nieseliger Herbsttag in der Großstadt Ostrava, weit im Osten der Tschechischen Republik. Weil es draußen so ungemütlich ist, suchen Tony und Venca einen Ort, an dem sie geschützt und in Ruhe kiffen können. In einem alten Stellwerk der Bahn werden sie schließlich fündig, aber als sie es sich gerade gemütlich machen wollen, entdecken sie, dass da noch jemand im Raum ist, eine Leiche, präpariert wie eine Jagdtrophäe, nackt und nach Verwesung stinkend.
Mit diesem grausigen Fund katapultiert uns die Tschechin Nela Rywiková hinein in die Handlung von „Kinder der Wut“, ihrem zweiten Roman nach „Haus Nr. 6“, einem in Tschechien viel beachteten, aber leider noch nicht übersetzten Debüt als Krimiautorin. Rywiková stammt selbst aus Ostrava. Was man dem Roman aber nicht anmerkt, er hätte in jeder anderen tschechischen Stadt genauso gut spielen können.
Ein toter Immobilienunternehmer namens Milan Bittner
Was die beiden Jugendlichen nicht wissen: Der Tote ist kein geringerer als der ziemlich erfolgreiche Immobilienunternehmer Milan Bittner. Doch wer hat ihn umgebracht und warum? Es gibt zwar schnell einen Verdächtigen, den Tierpräparator Erik Sýkora, ein Sonderling, der zurückgezogen in einem anderen verlassenen Stellwerk auf dem Bahnhofsgelände lebt.
Aber die Ermittler Adam Vejnar und Zuzanna Turková glauben nicht so recht daran, dass es Erik gewesen sein könnte. Ihr Augenmerk richtet sich im Verlauf der Handlung immer stärker auf die Stadtverordnete Jana Bittnerová, die Frau des Toten, und ihre Verstrickungen in ominöse Immobiliengeschäfte in Ostrava.
Meisterhaft entspinnt Nela Rywiková die Fäden der Handlung, und sie gibt dem Leser Rätsel auf: Welche Rolle spielt die Edelprostituierte Šárka Klocková und ihr Freier, ein Konkurrent Bittners, beim Kauf billiger Grundstücke? Welche Rolle spielt Šárkas Bruder Pavel, der Milan Bittner einst regelmäßig gegen Geld sexuell befriedigt hat, und vor allem: Was hat Šárkas und Pavels gewalttätiger Vater mit all dem zu tun?
Im tschechischen Ostrava lebten bis 1945 viele Deutsche
Geschickt lässt Rywiková lange offen, wer der Täter ist. Dabei baut sie ihren Roman so, dass er stets mehr ist als nur eine geradlinige Whodunnit-Geschichte. Am Anfang rätselt man noch, warum plötzlich in Rückblenden die Geschichte von Irma Stillmann, einer Deutschen, erzählt wird. Aber im Verlauf der Handlung wird klar, dass die Gewalt, die in der Gegenwart stattfindet, ihre Wurzeln unter anderem auch in der deutsch-tschechischen Vergangenheit haben muss.
In Ostrava, das zum mährisch-schlesischen Landesteil Tschechiens gehört, lebten bis 1945 auch viele Deutsche. Irma Stillmann, verheiratet mit einem Juden, der von den Nazis ermordet wird, ist eine von ihnen und sie erfährt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die volle Härte und Willkür der tschechischen Behörden, die ihr aufgrund eines Fluchtversuchs nach Deutschland einfach das Sorgerecht für ihren kleinen Sohn Erich entziehen, der fortan Erik heißen soll. Tatsächlich geht es Rywiková in ihrem Roman also auch um eine historische Tiefenbohrung, die sich einem lange verdrängten Kapitel der tschechischen Geschichte widmet.
Mobbing und Schikane im tschechischen Kinderheim, die Erik dazu bringen, sich immer mehr in sich zurück zu ziehen, die ihn emotional verkümmern lassen, aber auch die Geschichte seines Mitinsassen Lojza, dem späteren Vater von Šárka und Pavel, der seine im Heim und später im Gefängnis gemachten Gewalterfahrungen an seine Kinder weitergibt, dienen Rywiková dazu, eine historische Kontinuität bis in die Gegenwart zu zeigen, denn in den Figuren überdauert eine Aggression, die sie, und hier stellt sich der Bezug zum Titel her, alle in gewisser Weise zu Kindern der Wut macht.
Ein witziges Ermittlerpaar
Als Leser folgt man all dem mit großer Spannung und trotz der Schwere der historischen Kapitel mit Vergnügen, denn das ungleiche Ermittlerpaar Vejnar/Turková ist auch ungemein witzig. Hier die organisierte, geradlinige und vom Arbeitseifer besessene Zuzanna Turková. Da der stets leicht alkoholisierte und etwas nachlässige Adam Vejnar, der allerdings mit einem gerüttelten Maß analytischer Intelligenz ausgestattet ist und der schon frühzeitig den richtigen Riecher hat.
Am Schluss gibt es eine kleine Überraschung und ein dramatisches Ende. Trotz der Detailfülle und der komplexen Verflechtungen der handelnden Personen liest sich „Kinder der Wut“ ausnehmend locker und leicht, was nicht zuletzt auch der grandiosen Übersetzung von Christina Frankenberg zu verdanken ist.