Das zwölfte und letzte Gedicht des Poeta laureatus bringt, was man kaum wagt anzumahnen in diesen Zeiten: Die Kunst, als etwas, was dem zurückgezogenen Dichter Refugium ist im Angesicht der Katastrophe. „Gegen Mittag reisst der Himmel auf, wie es so schön heisst im Märchen, und einen Moment lang zeigt sich die Sonne“. Die Engel räumen auf, aber es sind nicht mehr die großen mächtigen ratlosen des ersten Gedichts, sondern „kleine knorrige Typen“ – Heinzelmännchen-Engel. „Mit weit ausgebreiteten Armen ließ ich sie ein“.
Das zwölfte und letzte Gedicht
Januar, Jänner. Jeden Morgen wird ein neues Spiel geprobt,
damit hier jeder seinen Auftritt hat. Nur die Amseln,
die im Bambus leben, sind als Komparsen immer gesetzt.
Heute das große Regen-Drama, das im April Premiere hat,
es dirigiert der kahle Ahorn, die beiden Trauerbirken tanzen
im Wind, die frierenden Haselsträucher bilden den Chor.
Und alle warten sehnsüchtig auf ihre neuen Kostüme.
Die zentrale Frage des Stücks, vom Chor gestellt, lautet:
Darf man von einem Sieg sprechen, wenn man noch nicht
verloren hat? Das Land ist verwüstet, die Häuser zerstört,
die Zukunft in Stücke geschlagen, dort, wo die Kirche
stand aus gutem Holz, zeugt noch ein Häufchen Asche
von ihrer einstigen Schönheit. Aber dann, gegen Mittag,
reisst der Himmel auf, wie es so schön heisst im Märchen,
und einen Moment lang zeigt sich die Sonne,
und auf den leeren Stecken des Hasel leuchten die Tropfen
wie Gold. Und einer, den keiner hier kennt, ein dürrer Bursche,
biegt ab von den unendlichen Strassen des Leids
und betritt von hinten die Szene und trägt eine Ode vor,
als hätte Pindar sich in unseren Garten verirrt.
Eine Ode auf die Schönheit in alkäischen Strophen
will er uns bieten, ein ganz und gar unverdientes Geschenk,
die Musik soll vom Bambus kommen wie früher üblich.
Ist das erlaubt? Der Chor äussert, wie üblich, Bedenken,
stimmt dann aber zu. Und während ich, hinter dem Fenster,
zuhöre, weiss ich, die Vögel kehren zurück, und die Ameisen
werden wieder die Uhren stellen, und die Schweigeminute
zum Gedenken der Opfer wird Jahre brauchen.
Das war er, der Tag im Januar, an den ich erinnern will.
Was zurückblieb waren, wie so häufig in dieser unklaren Zeit,
die Engel, kleine knorrige Typen in schmutzigen Kitteln
und mit rissigen Händen, die aufräumten und dem Sänger
einen Teller Suppe servierten und dann bei mir klingelten,
um den Ablauf des nächsten Tages zu besprechen.
Mit weit ausgebreiteten Armen liess ich sie ein.
Lyrik | Preis „Die Welt schmeckt jetzt anders“ – Michael Krüger als Poeta Laureatus
Der Krieg und die Dichter, das war immer ein Thema, seit Homer Troja besungen hat und Gryphius die Toten des 30jährigen Kriegs beklagten. Michael Krüger macht als Poeta Laureatus des literaricums im österreichischen Lech keine Ausnahme. Jeden Monat findet er Worte für das, was ihn beschäftigt: Amseln und Drohnen, das Alter und die Frage, was man mit Apfelbäumen aus dem Kaukasus machen sollte. Bei SWR 2 lesenswert und auf SWRKultur.de veröffentlichen wir die Gedichte und dazu Gespräche, die Michael Krüger und SWR2-Literaturredakteur Alexander Wasner monatlich führen.