Lyrik

Michael Krüger - Das zweite Gedicht

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Autor/in
Michael Krüger

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Auch in seinem zweiten Gedicht beginnt Michael Krüger bei der Natur, die zum Frühling aufbrechen will. Alles will fliegen und fließen, aber nur der "rohe Dialekt der Krähen" kann die große Unruhe fassen, die diesen Frühling begleitet.

Das zweite Gedicht

Noch hält die geschlossene Schneedecke über dem See,
doch sind ihre Tage gezählt. Ein paar kleine Vögel hüpfen
herum, die nicht wissen, ob der Schatten, der sie streift,
dem Bussard gehört oder dem Habicht im Aufwind.
Ich kann nicht entziffern, was sie schreiben, aber es ist
eine Schrift, etwas Babylonisches oder gar ein Psalm
in hebräischer Sprache, nur von oben zu lesen, nicht
vom Rand, wo ich stehe. Ich muss mich begnügen
mit der Übersetzung in den rohen Dialekt der Krähen:
Der Krieg ist nur als Erzählung verständlich.
Aber was ist zu verstehen? Wie überzeugend klingt alles,
wenn man kaum etwas weiss. Was wäre aus den Toten
geworden? Aus den Kindern der Toten? Früher, in den
Ländern des Abends und der Mitternacht, hiess es, man
solle das Wasser aus dem Brunnen schöpfen mit einem
Sieb; das sei angemessen, denn das Selbstverständliche
bleibt das Rätsel. Nun versperrt ein größerer Schatten
die bedürftige Sonne, es wird Zeit, ein Haus aufzusuchen,
in dem ein Krug auf dem Tisch steht, an dem ein Tropfen
hinabgleitet, unnütz und schön. Die Koffer sind gepackt,
gefüllt mit Demut und den vielen frommen Wünschen,
aus denen eine Vergangenheit besteht.
Und das Notizbuch mit den Aufzeichnungen zur
Enzyklopädie des Regens, Blatt für Blatt voller übermütiger
Worte? Vor der Tür bellt ein Hund , die ganze Nacht, dann
erbarmt sich ein Wind und trägt das Bellen so lange um die
Welt, bis es verstanden wird in allen Einsamkeiten.

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Michael Krüger