„Ich werde nie vergessen, wie meine Angst von mir abfiel wie eine lästige Haut“, heißt es im zehnten Gedicht von Michael Krüger, das zu seinem 80.Geburtstag erscheint. Der Dichter trifft darin Freunde wie Don de Lillo, geht mit singenden Mönchen durch Jerusalem und begegnet dem armenischen Alphabet. Aber natürlich findet alles zur falschen Zeit statt, nämlich zur Zeit des Krieges. Michael Krüger, der ehemalige Hanser-Verleger, ist Poeta Laureatus des literaricums in Lech.
Das zehnte Gedicht
Es ist sicher zwanzig Jahre her, denn der kleine Herr Birger
aus Kaunas war noch am Leben, der Gründer der Sons of Zion,
und in Jerusalem musste man nicht für die Demokratie
auf die Strasse gehen, weil es sie gab, als ich eines Nachmittags
mit Nan Graham, Don DeLillo und dem Krimiautor Walter Mosley
im armenischen Viertel der Altstadt von Jerusalem war,
als plötzlich eine Gruppe von singenden Mönchen, gekleidet
in wehende Tücher, uns sanft einkreiste und mitnahm zur Messe.
Ich werde nie vergessen, wie meine Angst von mir abfiel
wie eine lästige Haut, und ich verstand jedes Wort des Gesangs.
Große dunkle Vögel kreisten über der St. Jakobus-Kathedrale,
Schwarzstörche oder übergroße Stare, die mit klaren Schwüngen
und verkrakelten Kapriolen die armenische Schrift in den Himmel
schrieben. “Der Mensch ist noch lange nicht das, was er kann,
und schon gar nicht das, was er über sich zu wissen glaubt.“
Später stand ich im Hof der armenischen Druckerei,
wo ein uralter Katholikos mit Hilfe winziger Eidechsen
aus rissigen Holzlettern Kommentare zu den Kommentaren
zur Lebensgeschichte des Mesrop Maschtotz formte,
die auch in den anderen Vierteln Jerusalems beachtet wurden.
Als ich jetzt die Traurigkeit sah in den Augen der Armenier,
die mit ihren Eseln aus den schwarzen Gärten von Bergkarabach
in das Elend von Jerewan ziehen mussten, weil die Geschichte
unbedingt zeigen will, zu welcher Verderbtheit sie fähig ist,
fragte ich mich, was noch alles passieren kann, wenn wir demnächst
den Beginn des dritten Jahres des Krieges erleben müssen,
und mir fiel der armenische Künstler Arshile Gorky ein, dessen Familie
dem Genozid zum Opfer gefallen war und dessen Heimatstadt
im 1. Weltkrieg ausradiert wurde. Weil er begriffen hatte,
dass der Mensch das einzige Wesen ist, dass Angst hat vor sich selber,
wollte er seine Biographie umschreiben, um als ein anderer
ein bedeutender Maler des 20. Jahrhunderts zu werden.
Aber das Jahrhundert sass in ihm drin und frass ihn innerlich auf,
da nahm er sich - der Krieg war erst drei Jahre vorbei - einen Strick
und erhängte sich zwischen seinen Bildern im Atelier in Sherman,
USA. Übrigens habe ich den letzten der Äpfel in meinem Garten
Ende November gepflückt. Er war so versteckt unter den Blättern,
dass ich ihn erst gesehen habe, als die nunmehr kahlen Äste
ihr trostloses armenisches Gebet in den Nebel schrieben:
„Wenn ich dich je vergesse, Jerusalem, dann soll, sagt der Prophet,
meine Rechte verdorren.“
Jerusalemzitat: Milosz
Zitat der Mensch: abgewandelt von Blumenberg
Mesrop Matschtotz: Heiliger und Erfinder des armenischen Alphabets
Lyrik | Preis „Die Welt schmeckt jetzt anders“ – Michael Krüger als Poeta Laureatus
Der Krieg und die Dichter, das war immer ein Thema, seit Homer Troja besungen hat und Gryphius die Toten des 30jährigen Kriegs beklagten. Michael Krüger macht als Poeta Laureatus des literaricums im österreichischen Lech keine Ausnahme. Jeden Monat findet er Worte für das, was ihn beschäftigt: Amseln und Drohnen, das Alter und die Frage, was man mit Apfelbäumen aus dem Kaukasus machen sollte. Bei SWR 2 lesenswert und auf SWRKultur.de veröffentlichen wir die Gedichte und dazu Gespräche, die Michael Krüger und SWR2-Literaturredakteur Alexander Wasner monatlich führen.