Im Vierten Gedicht von Michael Krüger im Amt des Poeta Laureatus dreht sich noch einmal alles um die Ukraine: Ein Bild aus einer Zeitung wird zum Symbol der zynischen russisch-orthodoxen Kirche, ein toter Vogel zum grotesken Erlösungssymbol.
Das vierte Gedicht
Es ist warm geworden und länger hell, da sieht man auf den Fotos
die Toten besser in der grün aufblühenden Landschaft. Einer liegt da
wie vom Kreuz gefallen nach langer Folter, die Hände im Schlamm.
Schwer ist zu verstehen, wie in diesem verkrampften Körper
alles enthalten sein soll, die ganze Geschichte der Menschheit,
der Schrei und das Schweigen und der Dämon der Wahrheit,
und schließlich die trübe Gewissheit, dass einer mehr ist als ein Stück Fleisch
mit aufgerissenen Augen, in denen der Schuss noch nachhallt.
Sie konnten den Tod nicht aufhalten. Das Blut verbreitet sich
auf dem Boden wie Tinte auf Löschpapier, es berührt schon
die Kletten, Disteln und die unerschütterlichen Schlehen im Hintergrund.
Gott ist 1941 zurückgetreten, das ist die unsichtbare Schlagzeile,
die immer mitläuft. Den Platz will einer besetzen im blauen Anzug
und Krawatte, gesegnet von einem waschechten Patriarchen
mit sauberen Händen. Der viel Blut braucht, um die Kelche
des Imperiums zu füllen. Ein anderer lässt sich eine Krone
auf den schon lichten Haarkranz drücken, deren Edelsteine
mit schwarzem Schweiss poliert sind, das war zu der Zeit,
als die Schönheit noch vom Volk gewählt wurde.
Am Morgen lag ein toter Vogel auf dem Balkon, den hatte die Katze
ausgenommen nach Strich und Faden. Ich legte den Rest sanft
in die Zeitung mit dem Bild des toten Soldaten, stieg
über der Lumpenmann, der seit Tagen im Eingang sitzt
in seiner Kathedrale aus Elend, Auswurf und zähem Schmutz
und lautstark das Ende der Welt ankündigt, ein Metaphysiker
des Unrats, den ich jeden Tag reich beschenke, wechselte
die Strassenseite und übergab mein fragiles Päckchen
einer der leuchtenden Plastikboxen, die für die Reinheit der Stadt
zuständig sind. Ja, das gibt es auch: Behälter für die Reinheit
der Welt, in der wir leben oder die wir sind.
Gelesen vom Autor
Lyrik | Preis „Die Welt schmeckt jetzt anders“ – Michael Krüger als Poeta Laureatus
Der Krieg und die Dichter, das war immer ein Thema, seit Homer Troja besungen hat und Gryphius die Toten des 30jährigen Kriegs beklagten. Michael Krüger macht als Poeta Laureatus des literaricums im österreichischen Lech keine Ausnahme. Jeden Monat findet er Worte für das, was ihn beschäftigt: Amseln und Drohnen, das Alter und die Frage, was man mit Apfelbäumen aus dem Kaukasus machen sollte. Bei SWR 2 lesenswert und auf SWRKultur.de veröffentlichen wir die Gedichte und dazu Gespräche, die Michael Krüger und SWR2-Literaturredakteur Alexander Wasner monatlich führen.