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Martin Hecht – Gruppe und Graus. Rudelbildung im 21. Jahrhundert

Stand
Autor/in
Brigitte Neumann

„Gruppe und Graus“ von Martin Hecht ist eine sarkastische Betrachtung menschlicher Verhaltensweisen, denen jeder Gemeinsinn abgeht.

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Der Journalist Martin Hecht beschreibt mit einem Seitenblick auf das epochemachende Werk „Masse und Macht“ von Elias Canetti toxische Gruppen der Gegenwart - von grölenden Trunkenbolden im Zug über Motorradrocker, die ganze Dörfer in Angst und Schrecken versetzen bis zu sogenannten Wutbürgern, die sich endlich holen wollen, was ihnen zusteht.

Die Einsamkeit des modernen Individuums und sein Drang zur Gruppe sind zwei Seiten einer Medaille, stellt Martin Hecht in seinem neuen Buch fest. Denn Individualität, wo sie sich – wie heute häufig üblich - aus Lifestyle- und Konsumgewohnheiten definiert, bietet keinen Halt. Sie isoliert, weil sie die Konkurrenz betont. Die Lifestyle-Gruppe hingegen erweckt den Schein, die Isolation aufzuheben. Aber, und das ist eine wichtige Beobachtung des Autors, die Gruppen agieren ebenfalls isoliert voneinander, denn erneut geht es um das überlegene Konzept.

„Die Gesellschaft erscheint als Hemmnis der eigenen Entfaltungsmöglichkeiten, als Gebilde, das gegen einen steht und das es zu ignorieren gilt, um voll auf seine Kosten zu kommen. Viele Gruppen fühlen sich nicht mehr als Teil, sondern als Gegner der Gesellschaft.“, schreibt Martin Hecht.

Bezug zu Canettis Klassiker „Masse und Macht“

„Gruppe und Graus“ ist eine Art szenisches Essay in 12 Kapiteln, die schon in ihren Überschriften Bezug auf „Masse und Macht“ von Elias Canetti nehmen: von „Neue Zeiten, neue Gruppen“ bis zur „Überfallsgruppe“. Die Idee zum Buch kam Martin Hecht im ICE, in dem die Gute-Laune-Geschwader der Mädels-Gruppen, Junggesellenabschiede und Betriebsausflügler den Rest der Fahrgäste an die Toleranzgrenze bringen.

Und Hecht ist ein häufiger Zugfahrer. Er persifliert, was er hört und sieht. Etwa die Kanufreunde Meinerzhagen in Wagen 17 des ICE Nordfriesland, die schon frühmorgens ein Prosit der Gemütlichkeit anstimmen und, wie der Autor schreibt, einfach prächtig gut drauf seien.

Hecht lässt Szenen im Seniorenbus folgen, in der Yoga-Gruppe, mit Fußballfans und Gepiercten. Allerdings: Unter seinem Ehrgeiz, witzige Szenen anzuhäufen, begräbt der Autor fast den Ernst des Themas „Gruppe und Graus. Rudelbildung im 21. Jahrhundert“, zumal er sich, wie er selbst im Vorwort schreibt, mit seinem Buch auf das unter dem Eindruck des Faschismus‘ geschriebene Werk „Masse und Macht“ von Elias Canetti bezieht.

Weiter heißt es bei Hecht, die Zeit sei reif für eine neue Betrachtung, die unserer Epoche gerecht würde. Das klingt allerdings ein wenig vermessen. Denn Canettis Buch ist weiterhin hochaktuell.

Die Gruppe als Beobachtungsgegenstand

Martin Hecht ist gut im Beobachten und Persiflieren von Gruppenverhalten. Nicht immer gut ist die Analyse. Interessiert hätte schon, warum die harmlosen wie die radikalen Gruppen sich eher als Feinde der Gemeinschaft sehen und auch so benehmen.

Und warum packt Hecht sie alle zusammen: Von den Feiergruppen über die Impfgegner bis zu den Wutbürgern? Was haben diese Gruppen gemeinsam? Schildert Hecht hier die kapitelweise Steigerung von antisozialem Verhalten? Das letzte Kapitel „Die radikalisierte Gruppe“ jedenfalls handelt von Menschen, die der Demokratie wirklich gefährlich werden können. Und mit der Relevanz des Dargestellten steigt auch die Qualität der Analyse.

Betrachtungen über die Dummheit des Mobs

Hechts Betrachtungen über die Dummheit des Mobs sind erdrückend gut. Es ist nicht allein die Torheit der Regierenden, sondern immer öfter auch die des Volks und der Wähler, die zur tödlichen Gefahr für die westlichen Demokratien werden könnte, zitiert Hecht aus einer nicht weiter benannten politischen Theorie.

An dieser Stelle erweist er sich als würdiger Nachfahre Elias Canettis. Der beschrieb in seinem 1960 erschienenen Werk „Masse und Macht“ unbewusste, archaische, aber universelle Verhaltensmuster eines Kollektivs. Der Ton dabei ist ernst.

Hecht hingegen kann sich lange nicht entscheiden: Sind die lauten, unverschämten, rücksichtslosen Dominanzgruppen, die er ausmacht, ein Witz, Ausfluss einer komischen nationalen Neurose oder Vorboten der von Canetti beschriebenen Jagdmeuten, die auf menschliche Opfer aus sind? Im letzten Satz, der ein wenig aus dem Nichts kommt, wird er jedoch deutlich. Seiner Meinung nach fahren wir wohl gerade zur Hölle.

„Es ist nicht schlimm, dem Untergang der Welt entgegen zu taumeln. Wichtig ist nur, dabei bester Laune zu bleiben.“

Irritierend ist hier nur: Die grölenden Horden im Zug würden eine solche Empfehlung vielleicht sogar mit einem Grinsen abnicken.

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Brigitte Neumann