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Leonardo Sciascia – Die Affaire Moro. Ein Roman

Stand
Autor/in
Ulrich Rüdenauer

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Kann ein Jahrzehnte alter Text über eine einschneidende politische Krise in Italien uns heute noch interessieren? Aber ja! Leonardo Sciascia schrieb 1978 die „Die Affaire Moro. Ein Roman". Ein Buch über die Entführung des Politikers Aldo Moro durch die Roten Brigaden im Jahr 1978. Es sollte ein „Zeugnis der Wahrheit" sein, das nun in neuer Übersetzung erscheint.

Aus dem Italienischen von Monika Lustig
Edition Converso, 238 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-949558-18-4

Leonardo Sciascia wurde 1921 geboren und starb 1989. Er erlangte einige Bekanntheit durch seine Kriminalromane. Zu einem der spektakulärsten Verbrechen der italienischen Geschichte verfasste er ein „Pamphlet", das jetzt nach Jahrzehnten neu ins Deutsche übertragen wurde: „Die Affaire Moro. Ein Roman" – Ulrich Rüdenauer.

Es ist eine Affäre, die sich tief ins politische Bewusstsein Italiens eingebrannt hat: Just in dem Moment, als der Vorsitzende der italienischen Christdemokraten, Aldo Moro, einen historischen Kompromiss mit den Kommunisten schließt, um eine stabile Regierung zu bilden, schlagen die Roten Brigaden zu. Am Vormittag des 16. März 1978 werden die fünf Leibwächter Moros erschossen, er selbst von den Brigate rosse entführt und vor ein so genanntes Volksgericht gestellt. 55 Tage später, nach weitreichenden polizeilichen Maßnahmen und manchen Ermittlungsfehlern, wird die Leiche des 62-jährigen Politikers im Kofferraum eines Autos in der via Caetani in Rom gefunden. Was in den Wochen der Gefangenschaft geschah, hat tatsächlich das Zeug zu einem Thriller. Ein solcher aber interessierte den Krimi-Autor Leonardo Sciascia nicht. Wenige Wochen nach Moros Tod schrieb der sizilianische Schriftsteller und Politiker in kürzester Zeit einen langen, zwischen den Genres oszillierenden Text, der noch im selben Jahr 1978 erschien. Monika Lustig hat diesen meisterlichen Roman-Essay als Verlegerin nun neu ediert. Sie hat die langen, komplexen Phrasen und Gedanken Sciascias souverän ins Deutsche gebracht und hervorragend kommentiert. Was macht diese Schrift, dieses Pamphlet, diese Intervention so eindrucksvoll?

Sciascia zeigt die blinden Flecke der Affäre Moro auf, und er tut das zuallererst als genauer Leser. Mit Enthüllungen aufwarten kann er nicht. Die Briefe Moros aus seiner „Haft“ bei den Brigaden waren allesamt bekannt – sie wurden noch während der Entführung in Zeitungen gedruckt und spitzfindig interpretiert. Deren Lesart aber war rasch von seinen Parteifreunden vorgegeben worden: Der Verfasser, Moro, sei nicht er selbst. Durch Folter, Angst oder unter Drogeneinfluss entstanden, könnten die Briefe nicht ernstgenommen werden, so der Tenor. Dabei wiederholte Moro, verzweifelt, aber doch ganz bei Sinnen, was er schon jahrelang geäußert hatte: Auch Verhandlungen mit den linksradikalen Gegnern des Staates oder ein Geiselaustausch seien legitim, wenn es darum gehe, Menschenleben zu retten. Für die Christdemokraten wie auch für die Kommunisten galt ein anderer Imperativ: Der Staat dürfe sich nicht erpressen lassen. Die dahinterliegenden Motive der verschiedenen politischen Akteure waren dabei nicht unbedingt deckungsgleich, liefen aber auf ein und dasselbe hinaus: Moro seinem Schicksal zu überlassen.

Sciascia allerdings nimmt Moro ernst. Er liest seine Briefe als aufrichtige Versuche, seinen Parteifreunden Wege zu seiner Rettung aufzuzeigen. Er findet darin versteckte Botschaften, die Moros Vertraute in der Democrazia Cristiana jedoch übersehen oder ignorieren. Moro konnte als Geisel natürlich nicht frei schreiben. Er musste versuchen, so Sciascia, durch ungewöhnliche Wendungen und Ausdrücke wichtige Hinweise zu geben – auf seinen Zustand, den Ort seiner Gefangenschaft, auf die Hilfe, die er erwartet. Moros Kassiber wurden ebenso missachtet wie seine verzweifelten Appelle. Der mächtige Parteivorsitzende war plötzlich eine ohnmächtige Spielfigur, und er selbst erkannte das als erster. Immer verbitterter wurden seine Äußerungen.

Die Partei und die Medien übernahmen die Deutungshoheit über sein Leben: Man erklärte Moro für unzurechnungsfähig, beraubte ihn seiner Identität. Sciascia schreibt und liest dagegen an. Zum Modell wird ihm eine Erzählung von Jorge Luis Borges. Sie handelt davon, wie der fiktive Pierre Menard Cervantes‘ „Don Quijote“ noch einmal neu schreibt – ohne dabei auch nur ein Wort zu verändern. Etwas ähnliches macht Sciascia: Er legt noch einmal die Briefe Moros vor unsere Augen, ohne ein Wort zu ändern. Durch den anderen Kontext aber, durch eine neue Perspektive, durch seinen anderen Blick verwandelt sich ihre Bedeutung. Sciascia glaubte an die Schrift und an ihre Wahrhaftigkeit. Das macht „Die Affaire Moro“ noch heute lesenswert: Sciascia versteht die Worte – man könnte auch sagen: die Literatur – als „tragisches Zeugnis der Wahrheit“ und „der menschlichen Solidarität“. Mit dieser Grundüberzeugung weist das Buch weit über den Anlass hinaus, der zu seiner Entstehung geführt hat.

Stand
Autor/in
Ulrich Rüdenauer