SWR2 lesenswert Kritik

Kai-Ove Kessler – Die Welt ist laut. Eine Geschichte des Lärms

Stand
Autor/in
Oliver Pfohlmann

Gefühlt wird es von Jahr zu Jahr immer lauter. Aber stimmt das überhaupt? Und wie klang eigentlich das Leben in einer Großstadt wie dem viktorianischen London? Kai-Ove Kessler erzählt die Geschichte des Lärms vom Urknall bis zu den von Lärmschutzwänden gesäumten Autobahnen heute.

Rowohlt Verlag, 448 Seiten, 26 Euro
ISBN 978-3-498-00354-8

Der 1962 geborene Kai-Ove Kessler ist Rundfunkjournalist beim NDR und Buchautor. Er ist gelernter Historiker und als leidenschaftlicher Musiker spielt er Schlagzeug in einer Hard-Rock-Band. Mit der „Geschichte des Lärms" beschäftigt er sich schon lange und jetzt ist daraus ein Buch entstanden mit dem Titel: "Die Welt ist laut – Oliver Pfohlmann.

Im Anfang war nicht das Wort, sondern der Lärm, behauptet Kai-Ove Kessler. Und zwar kosmologisch, Stichwort Urknall, ebenso wie individuell. Wobei der Big Bang der Physik freilich eher metaphorisch gemeint ist, schließlich gab es zu Beginn von Raum und Zeit weder ein schalltragendes Medium noch hörfähige Wesen. Dafür geht es bei der Geburt eines Menschen umso lauter zu. Denn das Erste, was wir beim Eintritt in die Welt zu hören bekommen, sind die mütterlichen Schmerzensschreie – ein Phänomen, das menschliche Gebärende von allen tierischen unterscheide, so Kessler in seinem Buch über die Geschichte des Lärms.

Der 61-jährige Historiker und Journalist ist gleich mehrfach prädestiniert für dieses Thema. Denn Kessler ist langjähriger Rundfunkredakteur, aber auch Schlagzeuger bei einer Heavy-Metal-Band. Und weil er an Tinnitus leidet, kennt er auch den unhörbaren, rein subjektiven Lärm. Die Unterscheidung zwischen der objektiven, präzise messbaren Seite des Lärms und seiner subjektiv-individuellen ist für Kesslers Buch zentral. „Die Welt ist laut“, so der Titel der über 400 Seiten starken, hervorragend lesbaren Darstellung, geht von der These aus, dass der Lärm historisch gesehen ein zeitloses Phänomen ist. Die verbreitete Annahme, es sei erst mit der Moderne laut geworden, sei ein Irrtum, so Kessler: Klagen über Großstadtlärm zum Beispiel gab es schon im alten Rom. „Du bist aus Eisen oder taub“, schrieb zum Beispiel Seneca, „wenn unter so buntem und misstönendem Geschrei je deine Gedanken in Ordnung bleiben.“ Und der anthropogene, also menschengemachte Lärm ist genauso alt wie die Menschheit. Er begann, als die ersten Frühmenschen anfingen, Steine gegeneinander zu schlagen.

Wer also glaube, früher sei alles besser gewesen, liege falsch, betont Kessler und erinnert an die Geschichte der Büroarbeit: Vor dem Einzug der Computer verwandelten klappernde Schreibmaschinen und ratternde Fernschreiber Büros in Lärmhöllen. Die schallgedämpften Großraumbüros heute seien dagegen „Oasen der Ruhe“. Allenfalls die unablässigen Signal- und Klingeltöne unserer Handys störten. Aber das ist eben Kesslers Punkt: Nicht der Lärm sei neu, nur seine Art und Qualität änderten sich im Lauf der Geschichte ständig. Für diese These liefert der Autor in seiner kenntnisreichen und zitierfreudigen Darstellung viele Beispiele historischer Klangwelten: vom Geräuschpegel auf den Baustellen der Pharaonen über den Kanonendonner im Dreißigjährigen Krieg bis zur urbanen Kakophonie auf dem Times Square. QR-Codes verweisen dabei immer wieder auf Klangbeispiele im Netz.

Was sich im Lauf der Geschichte ebenfalls geändert hat, ist unser Umgang mit dem Krach. Zum Beispiel häuften sich seit der Industrialisierung die Klagen über den neuartigen Krawall aus den maschinenbetriebenen Fabriken oder über das Stampfen der neuen Eisenbahnen, das bislang friedliche Landschaften durchpflügte. Nur wurden diese Klagen lange als fortschrittsfeindlich abgetan. Das änderte sich erst im frühen 20. Jahrhundert, als sich erste Anti-Lärm-Aktivisten wie etwa der deutsche Philosoph Theodor Lessing immer, wenn man so will, lauter zu Wort meldeten. Ihnen ging es aber vor allem um das eigene Recht auf Ruhe, das ungestörte intellektuelle Arbeiten; für den Schutz der Betroffenen, etwa der Arbeiter und Arbeiterinnen, hatten sie noch wenig Verständnis. Auf die enormen gesundheitlichen Folgen des Lärms wurde man erst Jahrzehnte später aufmerksam. Der Weg bis hin etwa zu Autobahnen oder Schienentrassen, die von Lärmschutzwänden gesäumt werden, war freilich noch lang.

Das Beispiel Theodor Lessing erinnert indes daran, wie sehr gerade Künstler und Intellektuelle seit jeher unter dem Lärm zu leiden hatten. Goethe zum Beispiel ärgerte sich jahrelang über die ratternden Webstühle seines Nachbarn, eines Leinenwebers, berichtet Kessler. Kurt Tucholsky betete einmal, Gott möge ihm „Ohrenlider“ schenken, und Kafka wähnte sich mitunter gar im – Zitat – „Hauptquartier des Lärms“. „Ohne Ohropax“, schrieb der Prager Autor in einem Brief, „ginge es gar nicht.“ Diesen simplen Schutz für Lärmgeplagte gibt es zum Glück ja heute noch.

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Autor/in
Oliver Pfohlmann