Ein Schwimmbad unter der Erde, in einer nicht näher benannten amerikanischen Stadt. Hier im Souterrain finden sie sich täglich ein.
In unserem „wirklichen Leben“ oben sind wir Vielesser, Nichtskönner, Hundesitter, Crossdresser, Strickverrückte (Nur noch eine Reihe), heimliche Hamsterer, unbedeutende Dichter, nachziehende Ehepartner, Zwillinge, Veganerinnen….
Und noch viele, viele mehr! Auch Alice ist dabei. Sie ist dement und die heimliche Hauptfigur in „Solange wir schwimmen“, dem neuen Roman von Julie Otsuka.
…aber unten, im Schwimmbad, sind wir nur noch eins von dreien: die Schnellen, die Durchschnittlichen oder die Langsamen.
„Ich ging über viele Jahre regelmäßig zum Schwimmen in einen Pool bei mir um die Ecke in New York. Ich habe da die Dauerkarten-Besitzer kennengelernt, die zum Teil jeden Tag hingingen, richtig versessen auf ihre täglichen Einheiten. Für die mittelschnellen Schwimmer gab es zwei Bahnen. Ich war nie eine schnelle Schwimmerin. Ich gehörte immer zum guten Mittelfeld.“ (Julie Otsuka)
Das vielstimmige Kollektiv der eifrigen Schwimmer
Als Autorin aber gehört Julie Otsuka eher zu den Langsamen, Bedächtigen ihrer Zunft. Nur etwa alle zehn Jahre publiziert sie einen Roman, dann aber stets ein geschliffenes, hochverdichtetes kleines Meisterwerk. „Solange wir schwimmen“ ist ihr dritter Roman. Anfangs spricht das vielstimmige Kollektiv der eifrigen Schwimmer.
Eine Wir-Perspektive, die Otsuka schon in ihrem Roman „Wovon wir träumten“ einem Chor japanischer Einwandererinnen auf den Leib schrieb. Jetzt ist es das Sportler-Wir, das spricht und sich immer wieder in Einzelstimmen auffächert. Auch als plötzlich ein Riss im Schwimmbadboden entdeckt wird. Die Schwimmer spekulieren ohne Ende.
Dann gibt es auch noch die Expansionstheorie („Bedarf es weiterer Beweise, dass die Erde aus allen Nähten platzt?“, fragt der Besitzer vom Ace Hardware Store, Bob Esposito), die Theorie vom kosmischen Witz (Ha ha ha ha ha ha ha ha ha), die Verschwörungstheorie (Rotary-Schatzmeister Rick Halloran: „Das waren die Saudis“) und die „Erschütterungen durch Lkw-Verkehr auf dem Freeway“-Theorie (auch bekannt als „Big Truck“- oder „Big Bang“-Theorie).
Jeder hat da so seine ganz eigene Theorie. Julie Otsuka hat sie alle eingefangen und aufgeschrieben – mit scharfem Blick für eigenartige Typen und verqueres Denken. Also: für ganz normale Leute. Tatsächlich war Julie Otsuka noch nie so witzig wie in diesem Roman.
„Es steckt eine natürliche Komik in mir. In meinen ersten beiden Romanen habe ich diesen Drang unterdrückt, denn ich schrieb über ziemlich ernste Themen. Komik wäre da unangemessen gewesen. Obwohl ein bisschen vielleicht dann doch drinsteckt, aber eher leise. Mein neuer Roman ist meiner natürlichen Stimme nun viel näher. Aber letztlich sind Humor und Schmerz ja auch nur zwei Seiten derselben Medaille.“ (Julie Otsuka)
Der Riss geht durchs Becken, durch Alice und den ganzen Roman
Der Pool wird geschlossen. Die demente Alice fällt raus aus ihrer so wichtigen Schwimmroutine. Es geht daher nicht nur ein Riss durch das Becken, sondern durch den ganzen Roman. Ziemlich genau auf der Hälfte wechselt die Erzählperspektive. Jetzt spricht ein Du über Alice.
Sie weiß nicht mehr, woher sie die blauen Flecken auf ihren Armen hat oder dass sie heute früh mit dir spazieren war. […] Sie vergisst, genug zu trinken. Sie vergisst, sich die Haare zu kämmen.
Du, dir, dich. Das Du ist die Tochter. Sie erzählt die Dinge, die Alice bereits vergessen hat. So ist dieser Roman auch ein Requiem, ein Gesang auf eine verschwindende Mutter. Im Heim kommt auch das medizinische Personal nochmal zu Wort und schwingt sich auf zu einem großartig geschäftsmäßigen Chor der Pfleger.
Otsukas Kollektive haben manchmal etwas von einem antiken Chor, lassen hier aber auch an ein sportmedizinisches Oratorium denken. „Solange wir schwimmen“ ist komisch und bissig und zugleich sehr, sehr zart. Ein ergreifender Abschiedsroman.