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Jens Wonneberger – Weltliteratur. Kleine Prosa

Stand
Autor/in
Ulrich Rüdenauer

"Weltliteratur": Jens Wonnebergers einundzwanzig kleine Prosastücke spannen einen Bogen von der Kindheit des Erzählers bis zur Gegenwart. Mehr oder minder sind diese Texte an der eigenen Biografie entlang geschrieben: literarische Miniaturen, Beobachtungen und Porträts, in denen tatsächlich die ganze Welt enthalten ist.

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In Jens Wonnebergers Roman „Himmelreich“ baute sich einst der Vater des Erzählers Robert auf dem Dachboden eine heile Modelleisenbahnwelt im Maßstab 1:120 auf. Aber diese Miniatur-Idylle vermochte nur wenig gegen die chaotische, kümmerliche Wirklichkeit auszurichten. Seine kleine Flucht endete in einer großen und endgültigen: Er erhängte sich auf dem Speicher.

Jetzt ist Wonnebergers neuer Erzählungsband „Weltliteratur“ erschienen. Darin gibt es eine Geschichte, „dreizehn stufen in den himmel“ heißt sie. Dreizehn Treppenstufen führen auf den entrümpelten Dachboden des Elternhauses. Steigt der Erzähler sie hinauf, ist er augenblicklich zurückversetzt in seine Kindheitstage, und der in die innere Vergangenheit gerichtete Blick rekonstruiert detailliert, was in den verwinkelten Nischen verborgen lag: eine Silberhochzeitskrone, der Hitlerjugenddolch mit herausgebrochenem Hakenkreuz, eine verstaubte Marx-Engels-Gesamtausgabe. Auch die Gerüche sind präsent, der ätzende Gestank der Flüssigkeit, die der Vater an die Balken schmierte, um der Holzwürmer Herr zu werden. „(…) die Balken hielten“, heißt es dann im letzten Absatz, „auch der rostige Haken hielt, hielt noch den Vater, als der mit einem Strick um den Hals sein Leben an ihn hängte. Steif wie die Laken in eisigen Wintern hing er dort, eine Träne war auf dem Weg vom Auge zum Mundwinkel eingetrocknet.“ Dieser Satz ist ein Schock, der im Text angelegt ist und auf den doch nichts vorbereitet.

Auf wenigen Seiten, sparsam instrumentiert und verdichtet, greift Jens Wonneberger das Thema seines autobiografisch grundierten Romans hier wieder auf. Auch in seinen Geschichten rückt das Banale, Staubige und Unbeachtete in flackerndes Licht, bekommt dabei immer eine existenzielle Dimension. Selbst an den abgelegensten Orten eröffnet sich eine ganze Welt – auf mal lakonische, mal komische Weise. Ob es Kindheitsspiele und -träume sind, Erfahrungen der Ausgrenzung aufgrund einer fremden Herkunft oder einer undeutbaren Traurigkeit; ob von einem Arbeiter berichtet wird, der einem kleinen Jungen gehörige Angst einjagt; oder vom ereignislosen, gleichmütigen Leben der beiden Junggesellen Siegfried und Karl, beide Experten auf dem Gebiet des Allein- und Kauzigseins.

Meisterhaft ausbuchstabiert ist die Erinnerung an „18 monate einer dienstzeit“ des einfachen Soldaten Kransteiner in der Volksarmee der DDR. Es zeigt sich darin die Ödnis des Kasernendrills, die plötzlich abrufbare Panik, die Demütigung, als Individuum zu einer marschierenden Erkennungsmarke degradiert zu werden. Die Erzählung aber subjektiviert die Kollektiverfahrung zugleich, sie dreht den Spieß um, die Sprache verwandelt das Absurde zurück ins Menschliche – wenn etwa „Bügelfalten die ganze Nacht die Stellung halten“ oder ein Unteroffiziers-Gehilfe die Nachtruhe in den Flur hineinschreit und dabei „vor seiner eigenen Stimme“ erschrickt.

Wonnebergers „Weltliteratur“ heißt so, weil seine Texte welthaltig sind. Viele der geschilderten Erlebnisse dürften sich mit solchen des Autors decken. Die Arbeitsvermeidungsstrategien im Büro eines Baukombinats könnte der studierte Bauingenieur Wonneberger ebenso hautnah erfahren haben wie die Begegnungen mit skurrilen Kunden im Antiquariat, in dem er früher tatsächlich einmal jobbte. In der Titelgeschichte ist ein verdruckster Herr, der aufgrund seines graublassen Blousons nur der Täuberich genannt wird, auf der Suche nach dem chinesischen Kin Ping Meh, einem 600 Jahre alten sinnlich-erotischen Klassiker der Weltliteratur. Der Erzähler, Putzkraft im Antiquariat, verhilft dem Täuberich zu dem damals in der DDR kaum auffindbaren Buch und zu seinem heimlichen Glück. Viele Jahre später sieht er den Täuberich wieder; gelöst und zufrieden erscheint er ihm nun, wie er mit seiner prallgefüllten Aktentasche auf die Straßenbahn wartet. Da fällt dem Erzähler auf, dass sich die Haltestelle genau vor dem einstigen Antiquariat befindet: Der Buchladen aber wurde gleich nach der Wende geschlossen; keine Weltliteratur mehr im Schaufenster, dafür bunte Leuchtstoffröhren mit dem Namenszug „Dolly Buster“. Man sieht: Es braucht nicht viel, um vom Lauf der Zeit und der Dinge zu erzählen, selbst von den großen Umbrüchen – was es aber braucht: die präzise Beobachtungs- und Beschreibungsgabe von Jens Wonneberger.

Müry Salzmann Verlag, 158 Seiten, 22 Euro
ISBN 978-3-99014-240-0

Stand
Autor/in
Ulrich Rüdenauer