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Jenny Odell – Zeit finden. Jenseits des durchgetakteten Lebens

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AUTOR/IN
Roman Kaiser-Mühlecker

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Zeit ist Geld? Die Künstlerin und Essayistin Jenny Odell erkundet Zeitkonzepte abseits kapitalistischer Optimierungsstrategien.

Nach „Nichts tun“ nun also „Zeit finden“: Jenny Odell wählt für ihre Bücher vorzugsweise Titel, die sich an gestresste Manager zu wenden scheinen. Lektüre für ein smartphonefreies Yoga-Wochenende in der freien Natur, um danach wieder voller Elan in die Arbeitswoche zu starten. Doch der Schein trügt.

Die kalifornische Künstlerin und Autorin will keine Produkte einer „Langsamkeitsindustrie“ verkaufen, für die sie nur milde Verachtung übrig hat. Wie schon in ihrem vielbeachteten Erstlingswerk geht es in „Zeit finden“ um nichts weniger als um den Wunsch, die vorherrschenden Wertvorstellungen zu überwinden.

Verstand sich „Nichts tun“ als Anleitung der „Aufmerksamkeitsökonomie“ zu entfliehen, so ist ihr jüngstes, während der Pandemie geschriebenes Werk noch einmal deutlich ambitionierter.

Gegen ein kapitalistisches Zeitverständnis

Es ist ein Frontalangriff auf den westlich geprägten, vom Kapitalismus geformten Zeitbegriff. Eine Kritik an einem Verständnis von Zeit, die linear abläuft, jedem in gleichem Ausmaß zur Verfügung steht und vor allem für die Mehrung ökonomischer Ressourcen genutzt werden will.

Anhand von Texten wie jenen von Frederick Taylor, dem Vater der taylorisierten Fabrikarbeit, analysiert Odell, wie „Zeit zur Ware wurde und wie Arbeitszeit den Wert des Menschen zu definieren begann“.

Im Zentrum ihrer Untersuchung stehen dabei Machtfragen: Wer verfügt über die Zeit von anderen? Wer bestimmt den Wert dieser Zeit? Und welche anderen Konzeptionen von Zeit sind im kapitalistischen Expansionsprozess unter Druck, oder gar unter die Räder gekommen?

Zeit ist eine Machtfrage und höchst ungleich verteilt

Anders als Zeitmanagement-Bücher glauben machen, ist frei einteilbare Zeit höchst ungleich verteilt, schreibt Odell, und erinnert an entgrenzte, fremdbestimmte Lohnarbeit und unbezahlte Hausarbeit.

Außerdem kritisiert sie ein lineares und kontextunabhängiges Zeitverständnis als grob vereinfachend und illustriert das anhand zahlreicher Beispiele: Von zirkulären Zeitkonzeptionen indigener Gemeinschaften bis hin zum Erfahrungsbericht der Mutter eines Kindes mit Down-Syndrom, für das gängige „Entwicklungstabellen“ sinnlos sind, das aber selbstverständlich auf seine Weise – und nicht weniger intensiv – mit der Welt in Austausch tritt.

Zeit, so schreibt Odell, ist keine gerade Linie, sondern viel eher mit einem Pfad im Gebirge zu vergleichen. Mit jedem Schritt ändert sich die Perspektive.

Odells Überlegungen werden immer wieder von einem Bericht über eine Tagesreise unterbrochen, die sie durch Oakland und Umgebung unternimmt. Ein Bericht voller zoologischer, botanischer und geologischer Beobachtungen und philosophischer Reflexionen über die fragilen Naturräume.

Der Ort und dessen unmittelbare Nähe zum Silicon Valley ist auch im Rest des Buches spürbar. In der Allgegenwart der Werbe- und Managementsprache, die Odell unterhaltsam seziert, in ihrer Begeisterung für öffentliche Einrichtungen wie Parks und Bibliotheken, die weniger selbstverständlich erscheinen als in Europa.

Und nicht zuletzt in der etwas schemenhaften Kapitalismuskritik, die sich ein bisschen so liest, als hätte Odell sie für ihre Kunststudenten in Stanford geschrieben, die bis dahin noch wenig mit Marx in Berührung gekommen sind. 

Am Ende ein hoffnungsfrohes Buch

Odells Vorliebe für das Mäandernde zeigt sich auch in ihrem Schreiben. Sie ist keine Autorin, die rasch „auf den Punkt“ kommt, sondern eine, die in intensiven Dialog mit anderen Texten tritt und zweifelnd um ihre Standpunkte ringt.

Im Zusammenspiel mit den Unterbrechungen und den zahlreichen thematischen und zeitlichen Sprüngen kann das bisweilen ein wenig ermüdend sein. Dennoch beeindruckt, wie behände und fachkundig Odell zwischen den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen hin- und herwechselt und fast alles mit allem verbinden kann.

Die Krisen unserer Gegenwart rücken dabei oft bedrohlich nahe. Odell verfällt aber nicht in „Deklinismus“, also in den Glauben, unsere Gesellschaft sei zum Untergang verurteilt. „Saving time“, wie der doppelbödige Originaltitel lautet, betont die Handlungsmacht organisierter Akteure und ist damit letzten Endes ein hoffnungsfrohes Buch.

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AUTOR/IN
Roman Kaiser-Mühlecker